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Ausstieg aus der evangelikalen Kirche

Aktualisiert: 8. Jan. 2023

Warum es schwierig ist, sich von Glaube und Gemeinde zu verabschieden

Aussteiger*innen aus Freikirchen sprechen von "Dekonstruktion", wenn sie ihren Glauben hinterfragen und Strukturen und Muster aufarbeiten bzw. auflösen. Gerade wenn sie mit christlich-fundamentalistischen Überzeugungen aufgewachsen sind und diese über Jahre, verstärkt durch Familie und Gemeinde, verinnerlicht haben, kann die kritische Beschäftigung mit den gelernten Grundsätzen viel Zeit und Kraft kosten. Das Loslösen von Glaubenssätzen, die das gesamte Dasein und Denken bestimmt haben, ist ein existenzieller Prozess, der zu einer völligen Neuausrichtung des Lebens führen kann. Doch es ist nicht nur die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Glauben, die es Menschen so schwierig macht aus dem evangelikalen System auszusteigen. Sie müssen sich von so viel mehr verabschieden, als nur von dem Glauben an einen dreieinigen Gott. Auf einen Teil davon möchte ich im Folgenden eingehen.


1. Der Sinn des Lebens


Wir Menschen wünschen uns einen übergeordneten Plan für unser Leben. Wir fragen nach dem "Warum" und suchen nach Mustern und Erklärungen. Zu akzeptieren, dass unser Dasein möglicherweise völlig unbedeutend ist, dass der Mensch keine relevante Rolle im Universum spielt, fällt uns schwer. Der christliche Glaube bietet Abhilfe: Ein allmächtiger Gott, der die Menschen so sehr liebt, dass er seinen eigenen Sohn für sie opfert und für sie ein ewiges Lebens im Paradies vorbereitet, verleiht der menschlichen Existenz Bedeutung. Dazu kommt der Auftrag, anderen die frohe Botschaft zu verkünden, Menschen zur Bekehrung zu verhelfen und so Gottes zukünftiges Reich mitzugestalten. Es geht um Leben und Tod. Es gilt, den großen, göttlichen Plan zu verfolgen. Doch verliert man den Glauben, verliert man auch das Selbstverständnis. Der eigene Wert wird nicht mehr durch Gottes Liebe definiert, das Handeln nicht von einem höheren Ziel bestimmt. Auf die Frage nach dem "Warum" gibt es plötzlich keine Antwort mehr. War aber genau diese Antwort vorher ausschlaggebend für alles - das Denken, den Alltag, die Arbeit, das Familienleben, die Freizeitgestaltung -, kann die entstandene Leerstelle zu viel Leid führen. Denn diese, ohne Zuhilfenahme von religiösen Inhalten, mit einer gleichwertigen, sinnstiftenden Antwort zu füllen, ist kaum möglich.


2. Vertrauen und Verantwortung


Mein Vertrauen in Gottes Plan für mein Leben war immens. Ich war überzeugt davon, dass er jede Sekunde meines Lebens im Blick hatte und nur das Beste für mich wollte. Egal, was passierte und war es noch so klein, ich glaubte daran, dass es einen guten Grund dafür gab. Als ich mich nach meinem Abitur für einen Ferienjob im Baumarkt bewarb, wurde ich zu einem Probearbeitstag eingeladen. Schon auf dem Weg dorthin fühlte ich mich seltsam schwach. Dort angekommen, sollte ich mich hinter die Kassiererin stellen und ihr zusehen. Doch ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Mir war schlecht, schwindelig und ich schwitzte enorm. Keine halbe Stunde später wurde ich von einer entnervten Mitarbeiterin nach Hause geschickt. Sie hatte mir ansehen können, dass ich "bei der Tätigkeit keine Freude empfand". Ich lag eine Woche mit Fieber im Bett und bekam kurz darauf einen anderen Ferienjob, der besser bezahlt war. Natürlich wertete ich dieses Ereignis als Gottes Fügung. Bekam ich eine Wohnung nicht, die ich in Gedanken schon vollständig eingerichtet hatte, wurde ich krank und verpasste eine wichtige Klausur, oder stand ich im Stau und kam zu spät zu einer Veranstaltung - ich verließ mich darauf, dass Gott die Fäden in der Hand hielt und sich am Ende alles fügen würde.

Einzusehen, dass es möglicherweise gar keinen höheren Plan für mein Leben gibt, ging bei mir auch mit einem neuen Bewusstsein für mein Leben und meine Entscheidungen einher. Die Verantwortung, die ich bisher freimütig abgegeben hatte, lag nun vollständig bei mir. Plötzlich spielten Eigenverantwortung und Selbstbestimmtheit eine Rolle. Auch wenn ich dies heute als gewonnene Freiheit ansehe - das blinde Vertrauen in eine göttliche, mir gut gesinnte Macht hat mir auch viel Sicherheit, Ruhe und Gelassenheit gespendet.


3. Hoffnung


Egal, ob Menschen durch Epidemien sterben, der Krieg näher rückt, wir den Planeten aufheizen und für Umweltkatastrophen, Hitze, Dürren und Hungersnöte sorgen, Christ*innen können sich darauf verlassen, dass am Ende das Gute siegt und sie das ewige Leben geschenkt bekommen. Auch persönliche Krisen, Krankheit, Verluste und Rückschläge verlieren mit der Aussicht auf ein Happy End an Bedeutung und werden erträglicher.

Fällt der Glaube an ein Leben nach dem Tod aber weg, werden auch die Krisen und Konflikte auf der Welt belastender. Sie rücken näher, werden existenzieller; schließlich gibt es nur diese eine Welt, dieses eine Leben. Und nach der gegenwärtigen Lage können wir nicht davon ausgehen, dass alles ein gutes Ende nimmt. Ohne die christliche Hoffnung auf ein ewiges Leben eine positive und optimistische Grundhaltung zu bewahren, ist da nicht leicht. Auch hier entsteht eine Leerstelle.

4. Gemeinschaft


Während sich meine ersten drei Punkte auf Glaubensinhalte und eine generelle Einstellung aufs Leben beziehen, möchte ich hier intensiver auf Gemeinden als Institutionen eingehen, auf Orte, die Gläubige willkommen heißen, und auf Menschen, die ihren Glauben und ihre Werte miteinander teilen. Denn Gemeinden sind häufig der Grund, wieso Menschen zum Glauben finden, und auch der Grund, wieso sie bleiben, auch wenn sie zweifeln.


a. Das soziale Netzwerk


Bei Sekten spricht man von Love Bombing, wenn neue Mitglieder*innen angeworben werden. Menschen werden quasi überschüttet mit Liebe, man schenkt ihnen Aufmerksamkeit, lädt sie ein, verwickelt sie in Gespräche und gibt ihnen ein gutes Gefühl. Bei Freikirchen ist das nicht anders. Besucht man zum ersten Mal eine neue Gemeinde, wird man häufig schon während des Gottesdienstes mit einem Willkommensgeschenk bedacht und anschließend von einem Mitglied zum Mittagessen eingeladen. Die Leute sind interessiert, man wird auf die verschiedenen Haus- oder Bibelkreise aufmerksam gemacht und zu Events mitgenommen. Mit dem Besuch einer Gemeinde bekommt man ein großes soziales Netzwerk geschenkt, eine Gemeinschaft, die aufrichtig an ihrem Gegenüber interessiert ist. Man findet Menschen, mit denen man Zeit verbringen und Hobbys teilen kann, die einem beim Umzug, im Krankheitsfall oder bei Geldsorgen helfen, die beim Babysitten einspringen oder auf den Hund aufpassen. Damit bietet eine Gemeinde nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl, sondern auch Sicherheit und Stabilität. Es ist nicht einfach, ein solches Netzwerk außerhalb einer Gemeinde aufzubauen - und man gibt es auch nicht leichtfertig auf.


b. Vertrauensvoller Austausch


Bei Begegnen von Christ*innen aus Freikirchen gibt es in der Regel automatisch einen Vertrauensvorsprung. Man teilt denselben Glauben, dieselben Ansichten und dieselben Werte, man hat eine gemeinsame Basis. Es muss nicht erst lange an der Oberfläche herumkratzt werden, man kann gleich in die Tiefe gehen.


In diesem Kontext fiel mir das Projekt "The Dictionary of Obscure Sorrows" von John Koenig ein. Er erfindet Ausdrücke und Definitionen für Emotionen bzw. Sorgen, für die bisher keine existieren. Der folgende Begriff beschreibt die Art, wie in Freikirchen häufig Beziehungen gepflegt werden, sehr treffend:

"adronitis
n. frustration with how long it takes to get to know someone - spending the first few weeks chatting in their psychological entryway, with each subsequent conversation like entering a different anteroom, each a little closer to the center of the house - wishing instead that you could start there and work your way out, exchanging your deepest secrets first, before easing into casualness, until you’ve built up enough mystery over the years to ask them where they’re from, and what they do for a living." (deutsche Übersetzung: s. unten)

Denn genau dies geschieht in Gemeinden oft: Hier herrschen die perfekten Voraussetzungen für ehrliche Gespräche und einen tiefen und persönlichen Austausch. Man muss sich dafür nicht lange kennen, eigentlich muss sich gar nicht kennen. Solange derselbe Glaube geteilt wird, schenkt man sich gegenseitig Vertrauen, und so können in kurzer Zeit sehr gute Gespräche und Beziehungen entstehen.


c. Gemeinschaftsgefühl


Sowohl das soziale Netzwerk, das die Gemeinde bietet, als auch der persönliche Austausch geben Menschen das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Einen besonderen Effekt hat aber auch die gemeinsame Zeit, die man in Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen verbringt, denn hier stehen Emotionen im Mittelpunkt: Gerade in Freikirchen ist Musik von wesentlicher Bedeutung für die Ausübung des Glaubens. Worship nimmt einen beträchtlichen Teil der Gottesdienste ein und so wird auch die Atmosphäre maßgeblich von der Auswahl der Lieder bestimmt. Die häufig sehr mitreißenden und bewegenden Songs emotionalisieren die Besucher*innen, von euphorisierter Begeisterung bis hin zu abgrundtiefer Traurigkeit durchleben diese eine ganze Bandbreite an Gefühlen - und das gemeinsam mit einem großen Saal Gleichgesinnter. Gesteigert wird dieses Erlebnis auf Konferenzen oder Festivals, in denen Tausende Gläubige zusammenkommen. Hier entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, das nur schwer zu vergleichen ist. Denn anders als bei anderen Live-Events wie Konzerten sind es nicht nur die Musik und starke Emotionen, die gemeinsam erlebt und gefeiert werden, ausschlaggebend für das ausgeprägte Gefühl von Verbundenheit ist der Glaube, der alle grundlegend vereint.


Gemeindeaussteiger*innen werden (in der Regel) nicht gemieden, ausgeschlossen oder gar bedroht, wie es in Sekten manchmal der Fall ist. Sie können gehen, wann immer sie möchten. Doch sie geben viel auf und ihr Leben ändert sich maßgeblich - und darum ist dies keine einfache Entscheidung.


Übersetzung: "n. die Frustration darüber, wie lange es dauert, jemanden kennen zu lernen - die ersten paar Wochen damit zu verbringen, in ihrem psychologischen Vorzimmer zu plaudern, wobei jedes weitere Gespräch so ist, als würde man ein anderes Vorzimmer betreten, jedes ein bisschen näher am Zentrum des Hauses - und sich stattdessen zu wünschen, dass man dort anfangen und sich nach draußen vorarbeiten könnte, indem man zuerst seine tiefsten Geheimnisse austauscht, bevor man zur Beiläufigkeit übergeht, bis man im Laufe der Jahre genug Geheimnisse aufgebaut hat, um sie zu fragen, woher sie kommen und was sie beruflich machen."

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