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Die Scham des Glaubens

Aktualisiert: 10. Apr. 2023

Wenn einem das Christsein peinlich wird

Das Gefühl der Scham hat meine Kindheit und Jugendzeit stark geprägt. Der Kontrast zwischen meinem Leben in einer christlichen Familie und Gemeinde und der Zeit, die ich in der Schule oder mit Freundinnen verbracht habe, war so hoch, dass mir mein Fremdsein in "der Welt" immerzu bewusst war. Dass mein Glaube und die damit verbundenen Regeln und Gewohnheiten nicht zu den Normen der Gesellschaft passten, spürte ich schon früh, und ich fürchtete mich davor, bloßgestellt und negativen Reaktionen meines Umfelds ausgesetzt zu werden. Der Wunsch, Teil einer Gruppe, wie z. B. der Schulkasse, zu sein, war groß und so befand ich mich stets im Bereich der Ambivalenz - im Zwiespalt zwischen dem Bedürfnis, meinen Glauben zu verheimlichen, und dem Wissen, dass ich genau das nicht durfte. Schließlich war es meine Aufgabe, auch andere zum Glauben zu bekehren. Doch mein Schamgefühl überwog meist und bezog sich nicht nur auf die Inhalte der christlichen Religion, sondern auch auch auf viele Regeln, die aus diesem Glauben resultierten und mich in ihrer Konsequenz tatsächlich bloßstellen.


In diesem Beitrag möchte ich nur über mich und meine Erfahrungen sprechen. In wie weit sich diese verallgemeinern lassen, kann ich nicht sagen. Aber vielleicht findet sich ja die eine oder der andere in meinen Beispielen wieder.


1. Die Scham für den Glauben an die Bibel


Um Unterstellungen wie "Ja, dann hat sie auch nie richtig geglaubt" oder "Sie war ja nie wirklich Christin", die ich immer wieder lese, vorwegzunehmen: Ich war tatsächlich voll und ganz überzeugt vom Wahrheitsgehalt der Bibel und glaubte an Gott und die Erlösung. Ich wollte mein ganzes Leben nach Gott und seinem Willen ausrichten und war sogar nach dem Abitur auf einer Bibelschule, um eine christliche Ausbildung zu absolvieren. Doch obwohl ich an die vom Heiligen Geist inspirierte Bibel glaubte, war mir gleichzeitig auch bewusst, dass die Geschichten aus einer rationalen und wissenschaftlich geprägten Perspektive wenig plausibel waren: Gott, der die Welt in sechs Tagen erschafft, obwohl alle Erkenntnisse bezüglich der Entwicklung der Erde und des Lebens dagegen sprechen, Noah, der problemlos von jeder Tierart ein weibliches und ein männliches einfängt und auf seinem Boot transportiert, Jona, der drei Tage im Walbauch überlebt oder Maria, die jungfräulich schwanger wird - ich durfte diese biblischen Episoden nicht symbolisch auslegen, sondern hatte sie wortwörtlich zu nehmen, und mir war durchaus bewusst, dass sie wenig glaubwürdig klangen. Und dass ich, als jemand, der an all dies glaubte, bestenfalls als naiv, wahrscheinlicher aber als verrückt abgestempelt werden würde. Ich wollte meinen Glauben so gut es ging verheimlichen - und hatte aber eigentlich die Aufgabe, ihn wie ein glänzendes Schmuckstück vor mir herzutragen, damit alle ihn sehen konnten. Letzteres schaffte ich selten.


2. Die Scham fürs Missionieren


Obwohl ich meist versucht war, meinen Glauben einfach für mich zu behalten, gab es doch etliche Situationen, in denen dies nicht möglich war - vor allem, wenn es darum ging, den Missionsauftrag zu erfüllen. Denn nur dafür, so glaubten wir fundamentalistischen Christ*innen, waren wir in dieser Welt. Und so hatte ich immer wieder das Gefühl, meine "weltlichen" Freund*innen zu Gemeindeveranstaltungen oder christlichen Freizeiten einladen zu müssen. In Poesiealben durfte ich keine Gedichte und lustigen Sprüche schreiben, es mussten biblische Verse sein, die meinen ungläubigen Mitschüler*innen die frohe Botschaft vermittelten und hoffentlich den entscheidenden Samen für die geistliche Erweckung säen würde. Wenn an Sankt Martin die Kinder an der Tür klingelten und Lieder sangen, bekamen sie bei uns neben Süßigkeiten auch noch ein buntes Traktat mit Bibelgeschichten in die Tüte gelegt, und selbst der Bofrost-Mann wurde regelmäßig mit christlichen Botschaften versorgt. Ich schämte mich für diese Aufdringlichkeit - und hatte gleichzeitig das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Sonst würden alle diese Menschen doch verloren gehen.


3. Die Scham für die Herkunft


Auch wenn ich mich schon vor vielen Jahren vom Glauben verabschiedet habe, gibt es etwas in meinem Leben, das meine christliche Herkunft zweifellos verrät - und das ist meine Familie. Ich habe neun Geschwister, die noch dazu allesamt mit altmodischen, eher seltenen biblischen (oder eindeutig christlichen) Namen bedacht wurden - ich bilde mit Maren die einzige Ausnahme. So ließen sich vor allem während der Schulzeit meine Wurzeln kaum verleugnen. Nicht nur, dass Großfamilien vermehrt in christlichen Kreisen vorkommen, es reichte häufig schon aus, den Namen eines Bruders oder einer Schwester zu nennen, und die Lehrer*innen und Mitschüler*innen hatten eine recht klare Vorstellung von meiner Herkunft.


4. Die Scham für die Weltfremdheit


In meiner Kindheit war vieles verboten: weltliche Musik und Bands, moderne Filme, angesagte Klamotten, Horoskope, das Interesse an Promis und Stars und sowieso alle Inhalte, die in irgendeiner Weise mit Okkultismus zu tun haben könnten (und das wurde sehr weit ausgelegt, so dass selbst "Die Gummibärenbande" und "Hallo Spencer" nicht erlaubt waren). Ich bekam zuhause und in der Gemeinde wenig mit von dem, was "in der Welt" angesagt war. Meine Familie lebte wie in einer Parallelgesellschaft. Ich kannte die Serien nicht, über die sich auf dem Schulhof unterhalten wurden, und konnte bei Gesprächen über Schauspieler*innen oder beliebte Songs nicht mitreden. Mir war der Zugang zu den Themen, die meine Freundinnen beschäftigte und vereinte, versperrt. Ich schämte mich nicht nur dafür, von all diesen Dingen keine Ahnung zu haben, sondern spürte auch die Folgen daraus: Denn als Teenager sind genau diese Themen von Bedeutung und ich konnte nichts beitragen und war als Gesprächspartnerin häufig uninteressant.


5. Die Scham fürs Aussehen


Für meine Mutter war Eitelkeit eine schlimme Sünde. Die Aufmerksamkeit für den eigenen Körper und dessen Pflege war in ihren Augen für unser geistliches Leben nicht nur völlig bedeutungslos, sondern auch Zeitverschwendung und damit falsch. Kleidung wurde für die Kinder völlig pragmatisch ausgewählt: Man trug die Klamotten der älteren Geschwister oder anderer Gemeindekinder, die rausgewachsen waren. Und musste doch mal etwas Neues her, wurde nur auf die Funktion, niemals auf die Ästhetik geachtet. Ich trug Pullover und Hosen, die mindestens zwei Nummern zu groß und deren Schnitte und Farben außer Mode waren. Genauso wurden die Frisuren gehandhabt. Als ich acht war, bekam ich einen Kurzhaarschnitt verpasst, den ich über viele Jahre trotz Widerwillen behalten musste. Haut- oder Haarpflege spielten keine Rolle, Bein- und Achselhaare durften nicht rasiert waren - schließlich hat man sie von Gott geschenkt bekommen. Jegliche Beschäftigung mit dem Äußeren wurde als Eitelkeit verurteilt.

In der Schule war mein Aussehen immer wieder Thema. Für meine Haare wurde ich ausgelacht, meine Outfits wurden verspottet und selbst gute Freundinnen sprachen mich auf meine Kleidung an. Ich war umgeben von Menschen, die sich für Mode interessierten und ihre Kleidung genau aufeinander und ihren Körper abstimmten, und ich fiel offensichtlich aus der Reihe.


6. Die Scham für die Selbstisolation


Ich bin im Rheinland aufgewachsen und Karneval spielte in der Schule eine große Rolle. An Weiberfastnacht kamen alle Kinder mit Kostüm in die Klasse und um 11:11 Uhr wurden die Stifte fallen gelassen, es wurde Musik aufgelegt und den Rest des Tages gespielt. Ich liebte das Fest: Wochen vorher diskutierten meine Schulkamerad*innen darüber, als was sie gehen wollten, als Ärztin, Clown oder Pippi Langstrumpf, und auch ich überlegte, welche Verkleidung mir gefallen könnte. Nur leider war das Fest bei uns zuhause verboten (es war ja heidnisch) und so war ich jahrelang die einzige in meiner Klasse, die ohne Kostüm zur Schule kam. Jedes Mal wurde ich von der Lehrerin gefragt, wieso ich normale Klamotten trug, und immer musste ich sagen, dass ich mich nicht verkleiden durfte. Auch Silvester und Raketen waren okkult und damit nicht erlaubt. Kindergeburtstage, die zeitgleich zur Jungschar gefeiert wurden, durfte ich nicht besuchen. Ich wäre liebend gerne einem Sportverein beigetreten, aber da die Wettkämpfe meist sonntags stattfanden und ich auf keinen Fall den Gottesdienst verpassen durfte, war das nicht möglich. Als in der Grundschule das Buch "Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch" durchgenommen wurde, durfte meine Schwester nicht mitlesen und bekam von meinem Vater eine Entschuldigung, damit sie die Klassenarbeit nicht mitschreiben musste. Bei Filmabenden oder Konzerten mit Freund*innen prüften meine Eltern vorher die Filme und Musik, die wir planten anzusehen oder zu hören, und entschieden dann, ob die Treffen ungefährlich waren oder ich lieber zuhause bleiben sollte.

Während meiner Kindheit und Jugendzeit führte der Glaube immer wieder dazu, dass ich nicht Teil einer Gemeinschaft sein durfte, obwohl ich mir genau das so sehr gewünscht habe. Der Glaube schloss mich aus, er isolierte mich und brachte mich immer wieder in eine exponierte Position, die ich erklären musste.


7. Die Scham für die Scham


Ich schämte mich für so vieles - und am meisten schämte ich mich dafür, mich zu schämen. Denn eigentlich wusste ich ja, dass ich dankbar für meinen Glauben sein sollte, dass ich ihn voller Stolz verkünden und vor Freude, dass Gott mich liebt, geradezu übersprudeln sollte. Ich schämte mich vor Gott, dass mir mein Ansehen vor meinen Freund*innen, mein Äußeres, mein Bedürfnis nach Gemeinschaft und Spaß so wichtig waren - wichtiger als die Verkündigung der frohen Botschaft. Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen meiner selbstsüchtigen Gedanken und Wünsche. Doch trotz Gebete und der inneren Kämpfe gegen die Scham, konnte ich diese einfach nicht ablegen. Innerlich wünschte ich mir zu sehr, Teil der "Welt" zu sein, und spürte, dass mein Glaube und seine Regeln dort nicht hineinpassten. Und gleichzeitig konnte ich diesen Wunsch nicht unterdrücken.

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