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Die persönliche Beziehung zu Jesus

Wenn Gott dein bester Freund werden soll



In evangelikalen Kreisen ist die persönliche Beziehung zu Gott elementar. Das Konstrukt der Dreieinigkeit (der Vater, der Sohn und der Heilige Geist) ermöglicht es Glaubenden, Gott sowohl als Vater als auch als besten Freund zu verstehen. Denn die Unnahbarkeit eines herrschenden, überirdischen Wesens, die im Alten Testament noch zu spüren ist, wurde durch die Menschwerdung Jesus' aufgehoben. Er hat auf der Erde unter uns Menschen gelebt, ist Beziehungen eingegangen und hat Freundschaften gepflegt. Seine Präsenz auf der Erde wird als Angebot bzw. Aufforderung verstanden, selbst eine Beziehung zu Jesus aufzubauen und sie zu pflegen. Und wie jede Beziehung erfordert auch die zu Jesus Arbeit.


1. Bekehrung


In vielen Gemeinden reicht es nicht aus, als Baby getauft zu werden und christlich aufzuwachsen. Für die Errettung durch Gott und das Geschenk des ewigen Lebens im Himmel ist eine selbstständige Entscheidung zwingend notwendig. Dazu gehört nicht nur der Glaube an Gott, sondern auch der Entschluss, Gott nachzufolgen und sein Leben nach seinem Willen auszurichten. Darum werden in Freikirchen häufig keine Kindstaufen durchgeführt. Nur wer sich bei vollem Bewusstsein für ein Leben mit Gott entscheidet, kann die Taufe empfangen. Dieser Moment der Entscheidung, die Bekehrung, ist für Christ*innen ein relevantes Erlebnis. Die individuellen Bekehrungsgeschichten werden in Gemeinden gerne miteinander geteilt, nicht nur untereinander, sondern auch im Rahmen von Veranstaltungen und vor einem größeren Publikum. In der landeskirchlichen Gemeinschaft, in der ich viele Jahre Mitglied war, wurde dies "Zeugnis ablegen" genannt und diente dem Zweck, andere ebenfalls zur Bekehrung zu ermutigen. Konnte man mit einer eher ungewöhnlichen oder spannenden Geschichte aufwarten, hatte man zusätzlich noch die Aufmerksamkeit der Zuhörer*innen sicher. In meiner Jugendzeit wurde in meiner Gemeinde beispielsweise die Geschichte eines Verbrechers erzählt, dem im Gefängnis eine Bibel überreicht wurde. Er nutzte die dünnen Seiten, um seinen Tabak darin einzudrehen. Aus Langeweile begann er, die Seiten vorher zu lesen und bekehrte sich, als er beim Neuen Testament ankam. Mittlerweile hat er ein Buch geschrieben, war zu Gast in etlichen Podcasts und Talkshows und veranstaltet auch eigene Events. Da diese Erlebnisse aber ja nur zu Gottes Ehren vorgetragen werden und niemandem Selbstsucht und der Wunsch nach Beachtung vorgeworfen werden kann, ist die Inszenierung von spektakulären Bekehrungsgeschichten ein beliebtes Mittel.

Doch auch wenn man kein dramatisches oder einschneidendes Erlebnis hatte - wichtig ist in erster Linie, die Entscheidung für ein Leben mit Gott, das auf einer persönlichen Beziehung basiert.


2. Stille Zeit


In der Bibel wird dazu aufgefordert, alleine und zurückgezogen an einem ruhigen Ort zu beten:

„Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist" (Matthäus 6,6)

Dies wird in christlichen Kreisen häufig "Stille Zeit" genannt; ein Zeitraum, den man jeden Tag (oder auch gerne mehrfach täglich) für die Pflege der persönlichen Beziehung zu Gott nutzt. Hier bleibt es nicht bei einem einseitigen Gebet, in dem Gott Gedanken, Sünden und Wünsche vorgetragen werden. Gebete sind keinesfalls als Monologe zu verstehen. Die Beziehung zwischen Mensch und Gott beruht auf Beidseitigkeit. Es wird Zeit miteinander verbracht. Darum ist auch das Bibellesen ein elementarer Bestandteil der Stillen Zeit, denn durch die Bibel kann Gott dem Menschen antworten. Der Heilige Geist spricht durch die biblischen Verse und antwortet auf Fragen, die zuvor im Gebet formuliert wurden. Dabei geht es darum, Gottes Stimme im Inneren zu spüren, wahrzunehmen, dass Gott einen mit diesem Bibelvers ganz persönlich anspricht, darin etwas mitteilt, einen Auftrag erteilt. Da kann ein Vers wie "gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes!" (Lukas 9, 60) dazu führen, dass ein Christ als Missionar nach Indonesien auswandert, oder eine Frau Diakonisse wird. Es geht um Gefühle, die stark und intensiv sind, und die das Potential haben, den Glauben an Gott und seine Worte zur Gewissheit werden zu lassen. Das Hören von ergreifenden Worship-Songs kann dabei helfen, um in die entsprechende emotionale Stimmung zu kommen. Zusätzlich existieren jede Menge Ratgeber, Tagebücher und Liedersammlungen, um bei der Stillen Zeit zu unterstützen:



Doch was, wenn sich die Stille Zeit trotz allem wie ein Monolog anfühlt, wenn man Gott einfach nicht spürt, während andere Christ*innen von Gottes wunderbarem Wirken in ihrem Leben sprechen?


Dafür gibt es in der Regel diese Erklärungen:

  1. Man glaubt nicht genug an Gottes Macht und/oder betet nicht intensiv genug.

  2. Gott möchte den Glauben prüfen und schickt einen durch eine geistliche Durststrecke. Er zieht sich zurück, um zu prüfen, wie treu man ihm bleibt (s. Hiob).

  3. Satan führt einen in Versuchung. Man hat ihm zu viel Raum im Herzen gegeben, so dass Gottes Worte nicht mehr durchdringen.

  4. Man ist zu sehr auf sich selbst fixiert: Die Anliegen, die man in der Stillen Zeit anbringt, sind egoistischer Natur und Gott möchte darauf nicht eingehen. Man muss erst seinen Fokus wieder auf Gott richten.

Egal, welche Erklärung zutrifft: Die Lösung ist immer, mehr Stille Zeit zu machen. Denn nur durch stetiges Beten und Bibellesen kann der Glaube gestärkt und die Beziehung zu Gott enger werden. Nur dadurch kann Gott bewiesen werden, wie sehr man ihn liebt. Und so entwickelte sich bei mir ein Kreislauf, angetrieben von Druck und einem schlechten Gewissen, der dazu führte, dass sich die Stille Zeit in einen Zwang verwandelte, der von Glaubens- und Selbstzweifeln begleitet wurde.


3. Gemeinschaft


Doch nicht nur im stillen Kämmerlein wird die Beziehung zu Gott gepflegt, auch die Gemeinschaft mit anderen Gläubigen ist enorm wichtig:

Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. (Matthäus 18, 20)

Das Angebot in christlichen Gemeinden für Erwachsene ist groß: Es gibt Gottesdienste, Hauskreise, Seminare, Bibelstunden, Gebetskreise, Worship-Abende und vieles mehr. Denn der Glaube ist nicht nur Privatsache, auch in der Gemeinschaft muss die Beziehung zu Gott gepflegt werden.

So waren Gebetsrunden in meiner Gemeinde fester Bestandteil aller Treffen. Erst wurden (teils sehr persönliche) Gebetsanliegen gesammelt, dann wurde gebetet. Nacheinander beteten die Teilnehmenden laut für eines der genannten Themen. Für mich war dies auf zwei Weisen belastend: Erstens empfand ich Beten als sehr intime Handlung, bei der ich nicht beobachtet werden wollte, schließlich war die Beziehung zu Gott etwas zutiefst persönliches. Zweitens hatte ich immer Angst davor, dass man mir anmerkte, dass ich diese persönliche Beziehung eigentlich gar nicht wirklich hatte, sondern mir nur wünschte und darum vorspielte.

Mindestens genauso wichtig ist der Worship. Musik spielt in Gemeinden eine essenzielle Rolle. In meiner Gemeinde gab es einen Posaunenchor, eine Lobpreisband, einen gemischten Chor, einen Männer- , Frauen- und Kinderchor und eine, von einer wenig begabten Diakonisse gespielte, Orgel. Während im klassischen Sonntags-Gottesdienst noch alte Gesangsbücher mit Chorälen und Paul-Gerhard-Liedern zum Einsatz kamen, begeisterten sich die Jugendlichen für moderne Worship-Songs wie die von der Hillsong Church. In Texten wie "Hold me close, let your love surround me, bring me near, draw me to your side" ("The power of your love") oder "Jesus, berühre mich, hole mich ab, öffne die Tür für mich, nimm mich an deiner Hand, entführe mich, in deine Gegenwart. Jesus, ich spüre dich, strecke mich aus nach dir, berühre dich" ("Jesus, berühre mich") wird deutlich, wie stark auf die persönliche Beziehung zu Jesus gepocht wird. Bei manchen Liedern ist kaum noch auszumachen, ob sich die Liebeserklärungen an Gott oder den bzw. die Partner*in richten. Das gemeinsame Singen in großen Gruppen mit passender instrumentalen Begleitung euphorisiert und emotionalisiert. Gerade weil die Lieder häufig so ergreifend, bewegend und rührend sind. Auch hier geht es darum, Gott und seine Gegenwart zu spüren.

Für Menschen (wie mich), die nicht singen können, kein Rhythmusgefühl haben und beim Klatschen im Takt Überforderungsgefühle bekommen, kann der starke Fokus auf Musik ausgrenzend sein. Nicht nur, dass ich in keinem der Chöre Anschluss finden konnte, ich habe mich auch während der vielen Worship-Stunden nie so hingeben können, wie ich es bei anderen gesehen habe. Mir fehlte der Zugang zu den Liedern und damit auch das Gemeinschaftsgefühl beim Singen - und letztendlich fehlten mir die starken Emotionen, die als Gottes Wirken ausgelegt wurden.


4. Heilsgewissheit


Im Johannes-Evangelium steht:

„Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Johannes 3, 16)

Christ*innen können sich sicher sein, dass sie errettet sind und ins Paradies kommen. In evangelikalen Kreisen spricht man in diesen Zusammenhang von "Heilsgewissheit" - und die sollte man haben, sobald man sich bekehrt hat. Doch was genau bedeutet "an ihn glauben"? Schließlich ist dies die Voraussetzung für die Erlösung, doch leider gibt es keine konkrete Definition dafür. Ist man auch dann errettet, wenn man Gott nicht hört, nicht wahrnimmt, nicht spürt. Wenn die Stille Zeit schlecht läuft und der gemeinsame Worship zur Belastung wird? Wann glaubt man genug, um sich die Heilsgewissheit zu verdienen? Bei mir war es zu wenig. Ich war mir nie sicher.


Eine persönliche Beziehung zu Gott haben zu können - das ist das Versprechen, das evangelikale Gemeinden den Menschen machen. Und es klingt verlockend: Jesus, dein bester Freund, der dich liebt, der sich um dich kümmert, zu dem du jederzeit kommen kannst. Doch diese Beziehung war für mich kein Geschenk, sie war an Leistungen geknüpft, und Druck, Zweifel und ein schlechtes Gewissen wurden zu meinen ständigen Begleiter*innen. Sie grenzten mich nicht nur aus der Gemeinschaft aus, sondern führten schließlich zu meinem Abschied von der evangelikalen Welt - und dem Glauben.


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