top of page

Okkultismus - Teil 1

Autorenbild: Maren KahlMaren Kahl

Aktualisiert: 10. Apr. 2023

Welche Bedeutung die bösen Mächte für Christ*innen haben

Für mich als fundamentalistische Christin waren nicht nur Gott, die Engel und der Himmel real - dasselbe galt auch für Satan, Dämonen, böse Geister und die Hölle. Ich glaubte an ein dualistisches Weltbild, an eine Erde, die Kriegsschauplatz war für die Kämpfe zwischen den beiden Mächten, und an eine Apokalypse, in der das Gute endlich siegt. Doch bis dahin, so wurde mir beigebracht, hat Satan nur ein Ziel: So viele Menschen wie möglich von Gott weg und auf seine Seite zu ziehen. Darum galt es, mich von satanischen Einflüssen fernzuhalten. Ich durfte mit nichts, was auch nur entfernt mit Okkultismus zu tun haben könnte, in Berührung kommen. Da ein mir naher Verwandter über die "Gabe der Geisterunterscheidung" verfügte - sprich: als Exorzist tätig war - war das Thema in meiner Kindheit omnipräsent.


Was genau in christlich-fundamentalistischen Kreisen als okkult gilt und welche Auswirkungen der Glaube an böse Mächte haben kann, möchte ich hier verdeutlichen.


1. Okkulte Belastung: Wo kommt sie her?


Eigentlich wollte ich diesen Absatz mit einer Definition von "Okkultismus" beginnen, doch das würde einen falschen Eindruck erwecken, denn genau die gab es in meiner Kindheit und Jugendzeit nicht. Okkultismus wurde schlichtweg als Sammelbegriff gebraucht für alle Versuche Satans, uns mithilfe böser Mächte von Gott zu trennen. Es war ein Ausdruck, der wie eine dunkle Wolke über uns schwebte, diffus und nicht greifbar, denn die Gefahr lauerte überall. Ich hörte Geschichten von Klopfgeistern, die Missionar*innen in Brasilien um den Verstand brachten, von Dämonen, die seit Jahrhunderten ihr Unwesen in verlassenen Häusern trieben, und von einem besessenen Mann, der sich nachts in eine Fledermaus verwandelte. Die Wege, über die böse Geister in die Herzen der Menschen finden, können dabei sehr vielfältig sein. Schon ein"Bibi Blocksberg"-Hörspiel oder ein Märchen mit einem Zauberer konnten ein kindliches Herz für Dämonen öffnen.


1.1. Wie entsteht okkulte Belastung


a. Okkulte Belastung durch Erbe


Nach dem christlich-fundamentalistischen Glauben kann ein Mensch sogar dann okkult belastet sein, wenn er noch nie mit den bösen Mächten in Berührung kam. So zumindest wurde in meiner Gemeinde die Bibelstelle 2. Mose 20, 5 interpretiert

"Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen."

Demnach kann es passieren, dass Vorfahren mit Geistern in Kontakt waren und dies auf die folgenden Generationen Auswirkungen hat. Und da niemand mit Sicherheit weiß, was irgendein entfernter Verwandter vor Jahrhunderten mal getan hat, besteht quasi immer die Möglichkeit der vererbten Belastung. Glaubenszweifel, psychische Probleme oder generelle Schwierigkeiten im Leben können so immer in Zusammenhang mit einem eventuell in der Vergangenheit liegenden Geschehnis gebracht werden werden.


b. Okkulte Belastung durch Konsum


In meiner Kindheit spielte diese Form der okkulten Belastung eine sehr große Rolle. Nach dem christlich-fundamentalistischen Glauben meiner Eltern konnte man sich im Prinzip immer und überall versehentlich für die dunklen Mächte öffnen. Man musste sich nur mit den falschen Themen beschäftigen, und schon öffnete man die Tür zu seinem Herzen und ließ Dämonen einziehen. Die Gefahr lauerte überall.


Verboten waren alle Geschichten, in denen Hexen, Zauberer oder Magie vorkamen, denn diese wurden ganz klar der bösen Seite zugeordnet. Dabei gab es keinen Unterschied zwischen Kinderserien wie "Die Gummibärenbande" oder Horrorfilmen wie "Der Exorzist" - sie alle waren gefährlich und nur wenige Sekunden des Konsums konnten dazu führen, dass man sich versehentlich für Satan öffnete. Der "Harry Potter"-Band, den ich mir nach langem Sparen zugelegt hatte, wurde kurzerhand geschreddert und entsorgt, Bücher wie "Momo" oder "Die unendliche Geschichte" wurden gar nicht erst ins Haus gelassen und auch Musik musste gründlich geprüft werden, denn satanische Künstler*innen übermittelten darin versteckte Nachrichten. Vor allem Rückwärtsbotschaften bei Schallplatten waren ein ernstes Thema - man konnte nie wissen, welche Inhalte man da konsumierte.


Feste wie Karneval und Silvester durften nicht gefeiert werden. An beiden Anlässen sollten ursprünglich mithilfe von Verkleidungen oder Raketen böse Geister vertrieben werden. Meine Eltern waren der Ansicht, dass dies einer Art Hybris glich, konnte schließlich nur Gott selbst die bösen Mächte bezwingen. Und so nahmen wir lieber Abstand von diesen Bräuchen.


Auch Role Play Gaming oder die Beschäftigung mit Fantasy (abgesehen von der von C. S. Lewis, denn der war ja Christ) konnte den Menschen Satan näher bringen. Esoterik, Mystik, Spiritualität - sobald etwas auch nur im Ansatz mit Übersinnlichem zu tun hatte, wurde es dem Okkultismus zugeordnet. Hier wurde sich nicht mit Themen auseinandergesetzt oder differenziert. Ressentiments werden ungefragt reproduziert und zur Bekräftigung der eigenen Glaubenssätze genutzt. Auch Rassismus war hier verbreitet: Kam etwas von einem anderen Kontinent und war irgendwie fremd, wurde es schnell als okkult abgestempelt. Als in den 90er Jahren chinesische Schriftzeichen in Deutschland modern wurden und man sie für Tätowierungen und Wandbilder verwendete, wurde in meiner Gemeinde vor dem Trend gewarnt. Die Begründung: Man konnte nicht mit Sicherheit wissen, was sich hinter den Zeichen verbirgt. Im Zweifel könnten es okkulte Botschaften sein. Dasselbe galt für Yoga, bei dessen Übungen man sich den Dämonen öffnete, oder bei Tänzen, die ihren Ursprung in Afrika oder Südamerika hatten.


Auch Wahrsagerei zählte zu den gefährlichen Praktiken. Sich mithilfe von der Totenwelt oder unsichtbaren Mächten die Zukunft vorhersagen zu lassen, Kaffeesatz lesen, Bleigießen oder Karten legen lassen - all' dies war undenkbar und glich einer direkten Einladung an Satan. Selbst ein versehentlicher Blick auf die Horoskop-Seite beim Umblättern der TV-Zeitung konnte Konsequenzen haben.


Diese Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Doch fürs Erste sollte es reichen, um aufzuzeigen, wie umfassend Okkultismus gedeutet wurde und wir präsent er in meinem Leben war.


c. Okkulte Belastung durch aktives Kontaktaufnehmen mit der falschen Seite


Das schlimmste Vergehen war jedoch die direkte Kontaktaufnahme mit okkulten Mächten. Vor jeder Klassenfahrt und allen Kindergeburtstagen betete ich wie verrückt, dass niemand auf die Idee kommen würde, Gläser- oder Tischerücken spielen oder pendeln zu wollen. Ich hatte panische Angst vor Dämonen und Geistern und keine Zweifel daran, dass sie umgehend auftauchen würden, würde man sie heraufbeschwören. Sie waren real - und hatte man sie erstmal gerufen, würden sie auch nicht mehr gehen. Niemals hätte ich selbst bei einer Geisteranrufung mitgemacht, doch ich hatte Angst um meine Freund*innen. Ich fürchtete, dass die bösen Geister sie tyrannisieren, dass sie uns fortan begleiten und unser Leben zerstören würden.


2. Wie äußert sich okkulte Belastung?


Nach dem christlich-fundamentalistischen Glauben, mit dem ich aufgewachsen bin können Menschen entweder okkult belastet oder besessen sein. Es gibt unterschiedliche Härtegrade, die auch mit den jeweiligen okkulten Praktiken zusammenhängen. Grob könnte man sagen, dass es die folgenden Abstufungen gibt:

  1. Der Geist öffnet sich für die bösen Mächte und wird belastet. Es ist quasi so, als würde man die Tür zu seinem Herzen einen Spalt weit öffnen. Das kann völlig unbeabsichtigt passieren, wenn man z. B. die falsche Musik hört. Böse Geister haben dann die Möglichkeit, hineinzuschlüpfen und sich einzunisten.

  2. Ein Geist hat Besitz von einem Menschen ergriffen: Er hat sich im Körper eines Menschen einquartiert und übernimmt, phasenweise, das Denken und die Steuerung (In meiner Vorstellung funktioniert das ähnlich wie bei den Außerirdischen in "Men in Black"). In diesem Fall ist man besessen.

  3. Der Mensch besteht nur noch aus seinem Körper, der mehrere Geister und Dämonen beherbergt. Ohne die bösen Mächte existiert er quasi nicht mehr.

Wie oben schon erwähnt, war ein mir naher Verwandter als Exorzist tätig. Nach eigener Aussage hatte er die "Gabe des Geisteraustreibens" (zu diesem Thema im nächsten Beitrag mehr), wodurch ich schon früh mit dem Thema konfrontiert und entsprechend sensibilisiert wurde. Ich hatte nicht nur große Angst vor den Dämonen, sondern auch davor, auf Menschen zu treffen, die okkult belastet waren. Darum war es mir ein großes Anliegen, diese zu erkennen, und die nötigen Informationen dazu bekam ich bereitwillig:

Nach der Auffassung dieses Verwandten (und auch meiner Gemeinde) äußerte sich eine leichte Belastung in erster Linie durch Glaubenszweifel. Beschäftigte man sich plötzlich mit Fragen zur Bibel oder hatte man Schwierigkeiten dabei, seine persönliche Beziehung zu Jesus zu pflegen, konnte dies im Zusammenhang mit einer unabsichtlichen Beschäftigung mit okkulten Inhalten stehen. Dies musste zwar nicht zwangsläufig daher rühren, aber gerade wenn die Zweifel stärker wurden, war eine gewisse Wahrscheinlichkeit gegeben.

Daneben äußerten sich Belastung und Besessenheit auch in physischen Leiden wie Fieber, Krebs oder chronischen Krankheiten - und vor allem in psychischen Auffälligkeiten oder Erkrankungen: Insbesondere Zwangs- und Angststörungen, Neurosen, Halluzination, Psychosen oder Persönlichkeitsstören konnten als Folgen okkulter Beschäftigung gedeutet werden. Aber auch einfaches Stottern, Konzentrationsprobleme oder Schlafwandeln wurden als Anzeichen gesehen. Letzendlich waren fast alle physischen oder psychischen Probleme potenzielle Folgen einer okkulten Belastung.


Diese Deutung von Okkultismus und seinen Folgen bringt ein gigantisches Missbrauchspotenzial mit sich:

  • Schon bei Kindern wird eine Angst vor bösen Mächten geschürt, die zur Folge hat, dass fundamentalistische Christ*innen die Welt in Gut und Böse unterteilen, überall Gefahr wittern, unhinterfragt Vorurteile übernehmen, und sich von anderen Menschen, Denkweisen und Inhalten isolieren.

  • Wenn physische und psychische Auffälligkeiten und ernsthafte Erkrankungen als okkulte Belastung interpretiert werden, wenden sich die betroffenen Menschen unter dem Einfluss von christlich-fundamentalistischen Gemeinden an die falschen Personen: Statt Fachärzt*innen zu kontaktieren, suchen sie Hilfe bei Seelsorger*innen bzw. Exorzist*innen, die ihre Position nicht selten (egal in welcher Absicht) missbrauchen.

Wie in meiner Gemeinde mit okkulter Belastung umgegangen wurde und wie Lossagegebete sowie Austreibungen aussahen, berichte ich im nächsten Beitrag.

Kommentare


bottom of page