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7 Ängste, die Kinder aus christlich-fundamentalistischen Haushalten kennen (Teil 1)

Aktualisiert: 8. Jan. 2023

Wenn Glaube durch Angst getrieben wird


In christlich-fundamentalistischen Kreisen ist Gott nicht nur der liebende und barmherzige Vater, der seinen Sohn opferte, um die Menschheit zu erretten - er ist auch ein eifersüchtiger und strafender Gott, ein Richter, der über das irdische und ewige Leben der Menschen entscheidet. Und dem man gefallen sollte, wenn man sich seiner Rettung sicher sein will. Mit einem solchen Gottesbild gehen nicht nur Dankbarkeit und Hoffnung einher. Angst kann sich in diesem Konstrukt einen großen Raum schaffen - Angst davor, Gott nicht zu genügen, ihn zu verärgern, Angst vor der Strafe Gottes und vor der ewigen Verdammnis.


Als Kind und Teenager war ich zerfressen von Ängsten, die alle mit meinem christlichen Glauben zusammenhingen. Gespräche mit Christ*innen und Aussteiger*innen haben mir gezeigt, dass ich damit nicht alleine war. In diesem Beitrag möchte ich auf einige dieser Ängste näher eingehen.


1. Die Angst davor, nicht erwählt worden zu sein


Im Alten Testament gibt es eine Geschichte, die mich schon früh sehr nervös gemacht hat. Mose bekam die Aufgabe, das Volk Israel aus der Sklaverei zu befreien. Also ging er zum Pharao in Ägypten und bat ihn, die Menschen ziehen zu lassen. Doch Gott "verstockte" das Herz des Pharao:

Und der Herr sprach zu Mose: Siehe zu, wenn du wieder nach Ägypten kommst, daß du alle Wunder tust vor Pharao, die ich dir in deine Hand gegeben habe; aber ich will sein Herz verstocken, daß er das Volk nicht lassen wird. (2. Mose 4, 21)

Er ließ die Menschen nicht gehen und Gott schickte zehn Plagen über die Ägypter, bis Mose und die Israeliten endlich gehen durften. Dass Gott selbst den Pharao manipulierte und er gar nicht aus freien Stücken entscheiden konnte, beunruhigte mich zutiefst. Denn das bedeutete schließlich, dass ich mir über meine Gedanken und Entscheidungen nie sicher sein konnte. Steuerte Gott mich wie eine Marionette oder hatte ich auch einen autarken, freien Anteil? Und wie entschied Gott, welches Herz er verstockte und welches für Gott geöffnet wurde? Denn während der Pharao in der Geschichte Israels als Antagonist herhalten musste, wurde König David von Gott auserwählt ("Jehova hat sich einen Mann gesucht nach seinem Herzen." 1. Samuel 13, 14). Und das, obwohl er sich alles andere als gottgefällig verhielt: Nachdem er seine Nachbarin Batseba zum Beispiel geschwängert hat, ließ er kurzerhand deren Ehemann töten, um alles zu vertuschen. Doch sein Verhalten war nebensächlich, er stand in der Gunst Gottes.


Als Kind - und auch heute - erschien mir Gottes Wahl völlig willkürlich, sein Verhalten ungerecht. Für mich gab es keinen ersichtlichen Grund, wieso der eine Mensch erwählt und der andere verdammt wurde. Das eigene Handeln schien keinerlei Einfluss auf Gottes Entscheidung zu haben - und so fühlte ich mich völlig abhängig von einem höheren Wesen, das nach Belieben über mein Leben entschied. Dass Gott im Vorhinein alle Ereignisse bestimmt und festgelegt hat (Determinismus), stand für mich im krassen Widerspruch zu einem gerechten und liebenden Gott. Und mein Glaube war geprägt von der Angst, nicht in Gottes Gunst zu stehen.


2. Die Angst vor der Entrückung


Dementsprechend hatte ich auch Angst davor, nicht von Gott errettet zu werden. Christ*innen sind in der ständigen Erwartung, dass Jesus wiederkehren wird. Doch bevor das Gute endgültig über das Böse siegen kann, wird der Antichrist kommen und die Erde mit Krieg, Umweltkatastrophen und Leid einige Jahre beherrschen. Damit Gottes Kinder vor dieser schlimmen Zeit bewahrt werden, werden sie entrückt.

Darnach wir, die wir leben und übrig bleiben, werden zugleich mit ihnen hingerückt werden in den Wolken, dem Herrn entgegen in der Luft, und werden also bei dem Herrn sein allezeit. (1. Tessalonicher 4, 17)

Sie verlassen mit ihrem Körper die Erde und leben in einer Art Zwischenwelt, bis sie nach dem Armageddon ins Paradies dürfen. Nicht nur der große Krieg zwischen den beiden Mächten, bereitete mir Sorgen - dass ich nicht unter den Auserwählten sein könnte, die entrückt werden, war eine tiefe Angst, die meine Kindheit begleitete. Ständig fürchtete ich, dass meine Familie bereits von Gott gerettet worden ist, und ich alleine zurück blieb. Wenn ich nach der Schule nach Hause kam und meine Mutter mir nicht sofort die Tür öffnete, wenn auf den Straßen wenig Verkehr herrschte, in der Jungschar kaum Kinder waren oder mein Vater mich zu spät bei meinen Freundinnen abholte - die Möglichkeit, dass alle Menschen um mich herum von einer Sekunde auf die andere verschwinden könnten, verunsicherte mich. Ich blieb ungern alleine, wollte nichts verpassen und bat Gott in allen meinen Gebeten, mich mitzunehmen, wenn es so weit sein sollte.


3. Die Angst vor der Schuld


Christ*innen kommen in den Himmel, Nicht-Christ*innen in die Hölle. Eine klare und einfache Regel, die ich früh begriff und verinnerlichte. Ich durfte mich glücklich schätzen, dass ich Jesus durch meine Eltern schon als Kind kennenlernen und ihm nachfolgen durfte, doch meine Mitschüler*innen hatten teilweise noch nie von ihm gehört. Sie würden in der Hölle landen, wenn ihnen niemand von der frohen Botschaft verkünden würde. Ich wusste, dass es meine Aufgabe war, ihnen von Gott zu erzählen, ich war dafür verantwortlich, dass sie sich bekehrten. Und der Bibel nach hätte ich ohnehin vor Freude übersprudeln und aller Welt von Jesus' Liebe erzählen müssen. Ich schrieb meinen Freund*innen Bibelzitate ins Poesiealbum und lud sie zu Events in der Gemeinde ein. Gleichzeitig hoffe ich, dass niemand die Zitate lesen und auf meine Einladungen eingehen würde. Ich schämte mich für meinen Glauben und meine Familie. Es war mir peinlich, dass ich jeden Sonntag im Gottesdienst saß, dass ich an Wunder glaubte, und daran, dass Gott die Erde in sechs Tagen erschaffen hat. Ich wusste, dass meine Scham falsch war, dass ich Gott und den Glauben nicht verleugnen durfte, sondern stolz sein sollte. Doch mein Wunsch, dazuzugehören und anerkannt zu werden, war stärker. Ich wollte einfach nur ein Teil ihrer Gruppe sein und nicht auffallen. Diese Ambivalenz begleitete mich bis ins Erwachsenenalter. In mir war eine stetige Angst, schuld an der ewigen Verdammnis meiner Freundinnen zu sein - nur weil ich Angst davor hatte, verspottet zu werden. Diese Schuldgefühle und die Angst davor, für meinen Egoismus bestraft zu werden, verlor ist erst, als ich mich von Gemeinden und dem Glauben distanzierte.


4. Die Angst vor der okkulten Belastung


In meiner Gemeinde war das Thema Okkultismus sehr präsent. Nicht nur Satan war eine reale Gefahr, auch vor Dämonen sollte man sich als Christ*in gut schützen. Sie nutzen jede Möglichkeit, in den Menschen einzudringen, ihn zu manipulieren und von Gott wegzudrängen. Sie sind geschickt und lauern überall auf ihre Chance. Schon harmlos wirkende Kleinigkeiten wie ein Horoskop, das man beim Blättern der Fernsehzeitschrift versehentlich mit den Augen streift, oder ein Gespenst in einer Zeichentrickserie können gefährlich sein. Ich durfte als Kind keine Bücher mit Zauberern und Hexen lesen, keine Kassetten hören, in denen Geister auftauchten, oder Filme sehen, in denen Magie eine Rolle spielte oder Fabelwesen auftauchten. Mein Harry Potter Exemplar wurde zerschreddert und entsorgt. "Momo", "Die unendliche Geschichte", "Die kleine Hexe", "Casper", "Das letzte Einhorn", "Bibi Blocksberg" ... - all' diese Geschichten brachten okkultes Potenzial mit und wurden sicherheitshalber verboten. Denn selbst durch einen kurzen Kontakt mit den bösen Mächten, kann sich das Herz eines Menschen für sie öffnen. Und ist die Tür erstmal einen Spalt auf, können sich die Dämonen im Körper ausbreiten und Besitz von ihm ergreifen.


War ich bei anderen Kindern zu Besuch, fürchtete ich mich davor, dass verbotene Bücher in den Regalen standen oder sie okkulte Serien mit mir schauen wollten. Ich hatte Angst, dass ich in ihren Zimmer Spielzeug-Einhörer oder Hexenverkleidungen finden könnte. Und als ich älter wurde, kam die Angst dazu, dass meine Mitschüler*innen auf Klassenfahrten Gläserrücken spielen könnten. Es schien mir auch nicht unwahrscheinlich, dass meine Freundinnen selbst durch den Konsum von verbotenen Medien besessen waren und mich ansteckten, weil ich Zeit mit ihnen - und mit den Dämonen - verbrachte.


Dann würde nur noch Exorzismus helfen. Ich weiß, dass er nicht in jeder christlichen Gemeinde praktiziert wurde. In meiner aber schon: War ein Mensch von Dämonen besessen, mussten diese ausgetrieben werden. Dazu musste eine Person, die von Gott die Gabe der Geisteraustreibung empfangen hat, der bösen Macht in Jesus' Namen befehlen, aus dem Körper auszufahren. Dies konnte zu einer mehrstündigen Sitzung werden, denn häufig waren die Dämonen stark und weigerten sich. Es kostete den Exorzisten (ich gender hier bewusst nicht, denn ich habe noch nie eine Frau getroffen, die dachte, dass sie die Gabe des Exorzismus hatte) teilweise enorme Kraft und es konnte geradezu ein Kampf zwischen Gut und Böse werden, bis der Dämon den Körper verließ. In meiner Gemeinde kursierten nicht wenige Erzählungen über Geisteraustreibungen, die meine Angst vor okkulter Belastung nur noch verstärkten. (Zum Thema Exorzismus schreibe ich zu einem späteren Zeitpunkt mehr.)


Das Gute an Angst ist, dass sie uns mobilisiert. Sie schärft unsere Sinne und setzt Energie frei. Und darum funktioniert sie in einem Glaubenskonstrukt auch so hervorragend. Denn wir sind bereit gegen die Angst anzukämpfen: Fürchten wir uns davor, dass Gott uns verstößt, beten wir umso mehr. Haben wir Angst, dass Gott uns straft, meiden wir die Sünde. Es entsteht ein Kreislauf: Aus dem Glauben entsteht die Angst und die Angst treibt den Glauben an.



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