Wie fundamentalistische Gemeinden mit bösen Mächten umgehen
Im letzten Beitrag habe ich darüber geschrieben, was in christlich-fundamentalistischen Kreisen als okkult gilt und welche psychischen und körperlichen Symptome als vermeintliche Folgen okkulter Belastung gedeutet werden. In diesem Artikel möchte ich näher darauf eingehen, welche Maßnahmen - abseits von der Vermeidung aller Gefahrenquellen - Gemeinden ergreifen, um gegen die dunklen Mächte anzukämpfen.
Selbstverständlich gibt es bei diesem Thema unterschiedliche Auffassungen, Verhaltensweisen und Maßnahmen innerhalb der christlich-fundamentalistischen Szene. Wie in allen Beiträgen beziehe ich mich auch hier auf persönliche Erfahrungen und Erzählungen anderer Aussteiger*innen aus diversen Freikirchen.
Vernichten aller "okkulten Medien"
Wenn es in meiner Gemeinde dazu kam, dass sich Menschen bekehrten, die nicht christlich aufgewachsen sind, sondern "von außen" dazu kamen, war ihre Lebensgeschichte immer von großem Interesse. Vor allem, wenn sie sich vorher mit vermeintlich okkulten Themen beschäftigt haben. Denn in diesem Fall reichte eine simple Bekehrung nicht aus - die Einflüsse der bösen Mächte mussten zusätzlich bearbeitet werden. Im ersten Schritt galt es, sich von allen Medien zu trennen, durch die Dämonen potenziell wirken könnten. Dazu konnten Fantasy-Bücher, Tarot-Karten, CDs mit Rockmusik, die eventuell satanische Botschaften versteckten, Mandalas, Drehbücher von Role Play Gaming oder Filme über Magie gehören. Die frisch Bekehrten wurden dazu gedrängt, alles aus ihrem neuen christlichen Leben zu verbannen, war auch nur entfernt mit Okkultismus zu tun haben könnte. Zu beachten war, dass auch niemand anderes den Gefahren ausgesetzt werden durfte, so dass das Material nicht einfach im Hausmüll entsorgt werden durfte. Schließlich könnte es dort jemand finden und weiter verwenden. Es war notwendig, es zu zerstören. Teilweise brachten frisch bekehrte Christ*innen ihre Sammlungen mit in die Gemeinde und übergaben sie Seelsorger*innen, damit diese die Vernichtung übernahmen. Es war aber auch nicht unüblich, sich von dem Material in Form eines symbolischen Aktes, z. B. eines Feuers, zu trennen, um die Bekehrung mit diesem Schritt zu bekräftigen.
Lossagegebet
Zusätzlich zur Bekehrung und der Trennung aller okkulten Inhalte und Medien bedurfte es in meiner Gemeinde auch eines Lossagegebetes. Dieses Gebet konnten betroffene Personen alleine sprechen, besser jedoch war es, dies gemeinsam mit eine*r Seelsorger*in zu tun. Darin entsagen Personen Satan, dem Bösen und allen dämonischen Einflüssen, sie bitten um Vergebung für ihre okkulten Sünden (z. B. das Lesen eines okkulten Buches oder das Hören eines gefährlichen Lieds) und übergeben ihr Leben dem dreieinigen Gott. Erst durch diesen Akt können sie sich tatsächlich von den bösen Einflüssen freisprechen und ihr Leben nach Gottes Willen ausrichten.
Geisteraustreibung
In extremen Fällen jedoch muss einen Schritt weitergegangen werden. Da hilft ein Lossagegebet alleine nicht mehr aus. Betroffene Personen brauchen professionelle Hilfe von Seelsorger*innen, die mit der Gabe der Austreibung gesegnet wurden.
Zur Erklärung: Im Neuen Testament wird an mehreren Stellen von "Geistesgaben" gesprochen. Demnach wurde jeder Mensch von Gott mit einem besonderen Talent bedacht. Dies kann die Gabe des Dienens, der Weisheit, der Prophetie, der Lehre oder eben auch die der "Unterscheidung der Geister" (1. Korinther 12, 10) sein. In meiner Gemeinde wurde letztere als Auftrag, Dämonen auszutreiben, gedeutet.
Ein mir naher Verwandter hatte nach eigenen Aussagen diese Gabe und war gemeinsam mit zwei weiteren Gemeindemitgliedern regelmäßig als Exorzist tätig. Immer wieder erhielt er Anrufe von Personen, die davon ausgingen, okkult belastet zu sein. In diesen Fällen vereinbarte er einen "Seelsorge"-Termin, in denen erst über die Herkunft der okkulten Belastung und die Ausmaße gesprochen wurde. Anschließend wurde "den Geistern in Jesu Namen befohlen, aus den Körper auszufahren". Dieser letzte Part konnte unterschiedlich schwierig und mühevoll sein, doch letztendlich gewann immer die Macht Gottes.
Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Meine Schwester war etwa sieben Jahre alt, als unsere psychisch schwer kranke Mutter wieder einmal einen Wutanfall hatte. Sie krabbelte auf allen Vieren über den Wohnzimmerboden, wälzte sich über den Teppich und schrie aus Leibeskräften. Sie brüllte, dass ihre Kinder sie ins Grab bringen würden, dass alle nur auf ihr herumtrampelten, dass wir ihr mal den Buckel runterrutschen sollten und dass Gott sich doch erbarmen sollte. Immer wieder schrie sie dieselben Sätze, unterbrochen vor lauten Schluchzern. Wenn dies passierte, konnten wir Kinder nichts richtig machen. Hilfe anbieten, oder trösten war genauso falsch wie im Zimmer bleiben und still sein. Wie auch ich es immer tat, betete meine Schwester. Sie flehte Gott an, dass meine Mutter sich beruhigen sollte. Nur dieses eine Mal sollte sie aufhören zu schreien. Doch Gott tat nichts, er blieb stumm. So wie die vielen Male zuvor. Und so entschied sich meine Schwester um: Wenn Gott nicht helfen wollte, würde sie eben Satan fragen. Und so bat sie den Teufel und nahm anschließend ihre Blockflöte, um ihm Lieder vorzuspielen, damit er gnädig sein würde. Auch das half nicht und sie versuchte es nie wieder.
Doch jahrelang fühlte sich meine Schwester schuldig, weil sie als Kind einen "Pakt mit dem Teufel" geschlossen hatte. Irgendwann vertraute sie sich meinem Verwandten an, der als Exorzist tätig war. Dieser sah sofort Handlungsbedarf: Dass hier eine okkulte Belastung vorlag, stand völlig außer Frage, und so kam es zu einem Austreibungsgebet. Darin wollte er Satan befehlen, aus meiner Schwester auszufahren. Im Gebet erinnerte er an Gottes Größe und seine Liebe und Macht, doch während er sprach, spürte er Widerstand, eine Kraft, die gegen ihn ankämpfte. Er begann zu stottern und um seine Worte zu ringen, weil die bösen Mächte nicht kapitulieren wollten. Doch schließlich siegte das Gute doch: Im Namen Jesu wurde Satan ausgetrieben und meine Schwester war befreit.
Dieser Verwandte erzählte uns später, dass es in Seelsorgeterminen häufig zu noch schlimmeren Kämpfen zwischen den bösen Mächten und ihm komme. Manchmal fühlte es sich für ihn so an, als säße er nicht mehr den okkult belasteten Personen gegenüber, sondern den Dämonen selbst. Sie sprachen durch die Menschen mit verstellten Stimmen und in anderen Sprachen, sie sorgten dafür, dass die Menschen Fratzen machten und wild gestikulierten, teilweise sogar handgreiflich wurden - und er musste sich ihnen im Auftrag Gottes entgegenstellen. Teilweise konnte er in diesen Momenten kaum noch sprechen, berichtete er, er fühlte sich schwach und gelähmt, doch letztendlich konnte er darauf vertrauen, dass Gott die bösen Mächte verbannen würde. Wenn die Geister und Dämonen dann den Menschen und den Raum verließen, konnte es dazu kommen, dass sie sich am Exorzisten rächten und durch das Haus seiner Familie fuhren, um dort Chaos (z. B. in Form von Streit oder Krankheit) anzurichten. So konnte Leid in seinem Leben schnell mit seinem Einsatz für die guten Mächte erklärt werden.
Darauf, dass eine solche Seelsorge für die betroffenen Personen - zumal, wenn sie noch nicht erwachsen sind - ein verunsicherndes und verstörendes Erlebnis sein kann, muss ich wohl nicht näher eingehen. Es liegt auf der Hand, dass hier Ängste geschürt werden und Abhängigkeiten entstehen.
Als besonders fatal empfinde ich aber den Machtmissbrauch, der in diesem Rahmen betrieben wird. Denn die Symptome, anhand derer okkulte Belastung in meiner Gemeinde "erkannt" wurden, waren vielfältig und hätten auch immer auf körperliche oder psychische Erkrankungen zurückgeführt werden können. So wurde häufig zu seelsorgerlicher Beratung gedrängt, obwohl ein Arztbesuch angemessen gewesen wäre. In meiner Gemeinde hatte zum Beispiel eine Frau eine chronische Erkrankungen, die zwar nicht lebensbedrohlich war, aber zu starken Schmerzen an Haut und Muskeln führte. Ihr Leben war stark eingeschränkt und sie litt unter den Schmerzen. Doch statt ärztlicher Behandlung wurde ihr Seelsorge empfohlen, die sie dankend annahm. Jede Woche fuhr ein Seelsorger zu ihr, der um die Vergebung ihrer Sünden bat und sie auf mögliche okkulte Belastungen hin prüfte. Aus Berichten anderer Aussteiger*innen weiß ich, dass Sex vor der Ehe, Suchtverhalten oder Homosexualität in einigen Gemeinden ebenfalls als Folge okkulter Belastung gedeutet und mit Exorzismus bekämpft wurde.
Ganz egal ob psychische und physische Erkrankungen, Süchte, "schlechte" Angewohnheiten oder die sexuelle Orientierung, die nicht in das Glaubenskonstrukt fundamentalistischer Christ*innen passte - Okkultismus bot sich immer als Erklärung und Exorzismus als Lösung an. Wie beim dualistischen Weltbild selbst, wird auch hier die Strategie der Vereinfachung genutzt: Die eigentliche Komplexität des menschlichen Körpers und seiner Psyche wird schlichtweg übergangen und nonkonformes bzw. nicht christlich-normatives Verhalten wird als Satans persönliches Wirken deklariert.
Der fragwürdige Umgang vieler fundamentalistisch-christlicher Gemeinden mit Okkultismus kann daher etliche Folgen haben, wie:
Christ*innen haben enorme Angst vor Geistern, Dämonen und Satan. Häufig ist diese Angst schon bei Kindern stark ausgeprägt.
Die Welt wird in gut und böse eingeteilt, (rassistische) Vorurteile werden unhinterfragt übernommen und weitergegeben.
Christ*innen isolieren sich sozial, weil sie den okkulten Gefahren aus dem Weg gehen wollen.
Krankheiten oder nonkonformes Verhalten wird als okkulte Belastung gedeutet. Statt Ärzt*innen und/oder Therapeut*innen aufzusuchen, holen sich Betroffene Hilfe bei Seelsorger*innen. Das kann dazu führen, dass sie (lebens-)notwenige Behandlungen nicht erhalten.
Seelsorger*innen haben die Möglichkeit, ihre Macht zu missbrauchen, indem sie Ängste schüren, Menschen unter Druck setzen und sie manipulieren, was u. a. zu Traumata führen kann.
Meine Frage an euch:
Habt ihr ebenfalls Erfahrungen mit Okkultismus bzw. Austreibungen gemacht? Schreibt mir eure Erfahrungen gerne als Kommentar oder per Nachricht. Ich freue mich, von euch zu hören!
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