Was hilft, wenn man fundamentalistische Gruppierungen oder Freikirchen verlassen möchte
Eine religiöse Gruppierung zu verlassen, ist nicht einfach. In diesem Beitrag habe ich darüber geschrieben, welche Faktoren den Ausstieg aus einer christlich-fundamentalistischen Gemeinde so schwierig machen. In diesem Artikel möchte ich darauf eingehen, was helfen kann, wenn man sich für einen Ausstieg entschieden hat.
Dabei geht es mir nicht darum, zufriedene Mitglieder einer christlichen Gruppe von einem Leben ohne Religion und Gott zu überzeugen. Der Glaube kann auch viele positive Funktionen erfüllen und nicht in jeder Gemeinde sind missbräuchliche Strukturen zu finden. Bei den folgenden Tipps denke ich an Menschen, die starke Zweifel haben, sich gerne mit diesen auseinandersetzen möchten und den Wunsch haben, sich von ihrer Gruppierung zu lösen.
Und noch ein weiterer Hinweis: Was ein Mensch bei seinem Ausstieg braucht, hängt stark von seinen Erfahrungen, aktuellen Bedürfnissen und seinem Charakter ab. Diese Tipps sollen keinen Leitfaden oder ein Schritte-Programm darstellen. Ich fasse hier lediglich Maßnahmen zusammen, die mir und anderen Aussteiger*innen geholfen haben. Vielleicht sind welche dabei, dir auch euch unterstützen können.
1. Abstand zur christlichen Indoktrination
Ich steckte mitten in einer christlichen Ausbildung an einer Bibelschule, als die Zweifel so stark wurden, dass ich sie nicht mehr unterdrücken konnte. Für mich bedeutete das, die Ausbildung abzubrechen und meine berufliche Ausrichtung komplett zu überdenken. Zusätzlich beendete ich mein Engagement bei der Kinderbetreuung in einer Freikirche, besuchte keine Gottesdienste und andere Veranstaltungen mehr - und ich löste mich auch nach und nach von vielen Freundschaften mit Christ*innen. Was nach harten Brüchen klingt, war für mich eine Befreiung. Denn der gewonnene Abstand zur christlichen Indoktrination führte in der folgenden Zeit dazu, dass ich Fragen zulassen und Zweifeln Raum geben konnte. Sie wurden nicht mehr sofort mit gutgemeinten Ratschlägen, Gebeten oder Bibelversen weggewischt, ich musste sie nicht mehr so schnell wie möglich loswerden, weil mein Glaube ja sonst "nicht stark genug war". Stattdessen konnten sie in mir arbeiten - und ich durfte mich mit ihnen beschäftigen. Ich nahm meine christlichen Überzeugungen von einer distanzierteren Perspektive wahr und je mehr Abstand ich bekam, desto absurder und unglaubwürdiger schienen mir viele Glaubenssätze. Es fühlte sich an, als hätte ich jahrelang durch eine Lupe einen einzelnen Grashalm angeschaut. Und mir wurde gesagt, dass es nur diesen einen Halb gibt. Doch dann legte ich die Lupe weg, richtete mich auf und konnte die ganze Wiese sehen. Es hilft, mit ein wenig Abstand auf sich, sein Leben und seine Überzeugungen zu schauen, sich eine Weile nicht den christlichen Plattitüden auszusetzen und Zweifel an der Bibel mit der Bibel selbst beantworten zu müssen. Distanz verändert die Perspektive.
2. Zeit
Damit einher geht auch das Thema Zeit. Gerade wenn man christlich sozialisiert wurde, braucht es Zeit, verinnerlichte Glaubenssätze und Überzeugungen aufzubrechen. Es gilt, neue Perspektiven einzunehmen und sich für andere Werte zu öffnen. Das ist nicht von heute auf morgen getan und man muss Geduld mit sich haben.
Besonders lange hat es bei mir gedauert, die Angst vor der Hölle loszuwerden. Sie war es, die jahrelang der einzige Motor meines Glaubens war. Ohne die Angst, für alle Ewigkeit im lodernden Feuer leiden zu müssen, hätte der christliche Glaube schon viel früher seinen Reiz für mich verloren. Und noch Jahre, nachdem ich ausgestiegen bin, blieb diese Angst in mir bestehen. Ständig spukte die Frage in meinem Kopf herum "Was, wenn doch?". Es reicht nicht aus, dass der Kopf die Entscheidung trifft, nicht mehr an die Version von Jesus' Rettung zu glauben. Die Angst vor der Hölle sitzt bei vielen Menschen, die christlich erzogen wurden, viel zu tief. Sie ist Teil des Selbstverständnisses geworden. Und sie lässt sich nicht kurzerhand ausradieren.
Doch aus meiner Erfahrung heraus kann ich sagen, dass sie mit der Zeit leiser wird. Je weiter ich mich von christlich-fundamentalistischen Überzeugungen und Einflüssen distanziert habe, desto kleiner wurde auch die Rolle, die diese Angst in meinem Leben spielte. Und heute kann ich sagen: Sie kann ganz verschwinden. Man muss nicht mit ihr leben.
3. Kontakt mit Nicht- oder Anders-Gläubigen
Ich hatte immer auch Freund*innen, die mit Religionen nichts zu tun hatten. Dadurch hatte ich das Glück, schon früh andere Lebensmodelle und Wertesysteme kennen gelernt zu haben. Die Denkweisen und Standpunkte dieser Freund*innen haben die ersten Grundsteine für meine Glaubenszweifel und meinen kritischen Blick auf das teils diskriminierende Verhalten (z. B. beim Thema LGBTQ) vieler Gemeinden gelegt. Ihr Blick auf die Welt, ihre liberalen Ansichten und ihre Offenheit anderen Menschen gegenüber schien mit oft plausibler und humaner als das, was ich in Gemeinden erlebte. Ich konnte mich mit ihren Überzeugungen identifizieren. Und als ich ausgestiegen bin, half es mir enorm, auch andere Perspektiven zu kennen und weitere kennenzulernen. Alternative Sichtweisen und Werte, die sich für mich besser und richtiger anfühlten.
Von anderen Aussteiger*innen weiß ich außerdem, dass sie in ihrer christlichen Zeit von der "Welt" größtenteils ferngehalten wurden. Sie galt als schlecht, und die Menschen in ihr, so wurde ihnen erzählt, seien in Wahrheit tief unglücklich und innerlich kaputt. Für sie war es eine überraschende Erkenntnis festzustellen, dass auch Menschen ohne christlichen Glauben nicht nur oberflächlich und hedonistisch waren, sondern durchaus ein erfülltes und zufriedenes Leben führen können. Die christlichen Lehren hielten den Abgleich mit der Realität nicht stand.
4. Kontakt mit anderen Aussteiger*innen
Nach meinem Ausstieg habe ich mehr sehr gewünscht, mit Gleichgesinnten sprechen zu können. Doch ich kannte keine und so blieb es viele Jahre. Heute gibt es aber tolle Möglichkeiten, mit anderen Aussteiger*innen in Kontakt zu kommen. An dieser Stelle möchte ich auf den Verein Freikirchen-Ausstieg aufmerksam machen, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Raum für Aussteiger*innen und ihren Erfahrungsaustausch zu bieten. Auf Instagram sind sie mit dem Account freikirchen.ausstieg aktiv, auf dem Menschen über ihre Dekonstruktion und Erlebnisse berichten. Zusätzlich haben sie einen Discordchannel aufgebaut, in dem über verschiedenste Themen diskutiert werden kann. Hier gibt es zwei Bereiche: einen für Menschen, die auch weiterhin in irgendeiner Form an Gott glauben, und einen für alle, die nicht mehr glauben. Der Channel ist der perfekte Ort, um sich zu vernetzen. Denn hier finden auch Menschen zusammen, die aus derselben Region stammen und am Austausch interessiert sind. Ich selbst war bei mehreren Treffen in Köln dabei und kann jede*n nur ermutigen, sich ebenfalls mit anderen auf diese Weise zu vernetzen: Ich habe nicht nur tolle, nette und inspirierende Menschen kennengelernt, es hatte auch etwas sehr Heilsames, mit Gleichgesinnten zusammenzukommen. Die "gemeinsame" Vergangenheit ermöglicht einen sehr herzlichen und vertrauten Umgang miteinander, so dass auch schüchterne oder introvertierte Personen schnell Zugang finden. Wenn ihr im Discordchannel Mitglied werden möchtet, könnt ihr euch einfach über den Instagram-Account des Vereins per privater Nachricht an das Team wenden. Es entstehen hier keine Verpflichtungen und ihr könnt euch jederzeit wieder abmelden.
5. Erfahrungsberichte
Für mich war es zudem hilfreich, Erfahrungsberichte anderer Aussteiger*innen zu lesen, zu hören oder zu sehen. Zu wissen, dass man nicht die einzige Person mit einem Problem ist, eben nicht alles "ein wenig missverstanden" oder "falsch gedeutet" hat, kann sehr helfen. Es stärkt das eigene Selbstbewusstsein und man fühlt sich einer Gruppe zugehörig. Außerdem können viele Themen nochmal klarer werden, wenn andere über sie sprechen. In der Rubrik Linksammlung und Buchempfehlungen findet ihr etliche Empfehlungen zu Podcasts, Interviews, Berichten und Büchern.
An dieser Stelle möchte ich darum nur auf die folgenden drei Bücher hinweisen:
In seinem Buch spricht Bernd Vogt über seine Kindheit, die er in einer christlich-fundamentalistischen Familie und Gemeinde verbracht hat, bevor er mit sechzehn ausgestiegen ist. Der Erfahrungsbericht macht deutlich, auf wie vielen Ebenen geistlicher Missbrauch stattfinden kann, wie gerade Kinder unter Glaubenssätzen leiden und welche Auswirkungen die Indoktrination auch im Erwachsenenalter noch haben kann. Sehr zu empfehlen ist auch die Podcast-Folge bei "Besser so", in dem der Psychologe Leon Windscheid mit dem Autor über seine Erlebnisse spricht.
Auch wenn es etliche Unterschiede zwischen den Zeugen Jehovas und christlich-fundamentalistischen Gruppierungen gibt, sind viele Grundüberzeugungen doch sehr ähnlich. Aussteiger*innen beider Gruppen haben dadurch mit sehr ähnlichen Problemen zu kämpfen, so dass es sich lohnt, Erfahrungsberichte von Zeugen zu lesen. Misha Anouk erzählt nicht nur, wie er es geschafft hat, sich vom Glauben zu lösen, er beschäftigt sich in seinem Buch auch intensiv mit dem Inhalt der religiösen Lehren, der Herkunft vieler Regeln und Gesetzte innerhalb der Gemeinschaft und dem blinden Vertrauen auf die Autorität der Leitende Körperschaft. Diese kritische Auseinandersetzung gibt wichtige Denkanstöße und hilft dabei, auch selbst das Gelernte zu hinterfragen.
Vielen ist die Geschichte von Deborah Feldmann durch die gleichnamige Netflix-Serie bekannt. In ihren beiden Büchern "Unorthodox" und "Überbitten" berichtet sie von ihrem Leben in einer chassidischen Satmar-Gemeinde, das einem strengend Regelwerk unterliegt, ihrer Flucht aus New York und der Suche nach der eigenen Identität. Die Bücher sind eine Mischung aus intimsten Einblicken, klugen Beobachten und Analysen und einer mitreißenden Sprache, die ich jede*m - egal ob religiös aufgewachsen oder nicht - empfehlen möchte!
6. Kritische Literatur
In den letzten Wochen habe ich mir einige Interviews von Aussteiger*innen angehört. Die meisten von ihnen sagten, dass es ihnen besonders geholfen hat, kritische Literatur zur Bibel und zum christlichen Glauben zu lesen. Tatsächlich war es in den Gemeinden, die ich bisher besucht habe, nicht üblich, sich mit der Entstehung der Bibel oder des Christentums auseinanderzusetzen. Wie die einzelnen Bibeltexte entstanden sind, welche Beweise es für die Existenz von erwähnten Personen gibt und wie entschieden wurde, welche Bücher Teil der Heiligen Schrift sein dürfen ... - all' das war irrelevant. Die Bibel in einen geschichtlichen Kontext zu setzen, war unerwünscht. Sie ist vom Heiligen Geist inspiriert und darum nicht zu hinterfragen.
Dabei ist es so naheliegend, sich mit der Entstehung seiner eigenen Religion zu beschäftigen (auch wenn man keine Zweifel hat). Gerade in christlich-fundamentalistischen Kreisen ist die Bibel Mittelpunkt des Lebens und Denkens. Da ist es kein Wunder, dass Menschen, die sich mit Fragen und Zweifeln quälen, das Bedürfnis entwickeln, mehr über die Hintergründe dieses Buchs und des Glaubens zu erfahren. Bibel-kritische Literatur kann hier helfen, lang gehegte Zweifel zu bestätigen und alternative Erklärungen zu finden.
Hier kann ich die beiden Titel "Der Gotteswahn" von Richard Dawkins und "Der Jesus-Wahn" von Heinz-Werner Kubitza sehr empfehlen.
7. Therapie
Sich vom Glauben und einer Gemeinde zu lösen, ist nicht nur eine Meinungsänderung. Es kann einen tiefgreifenden Bruch im Leben darstellen, mit dem man nicht alleine zurecht kommen muss. Ich kenne viele Aussteiger*innen, die eine Therapie in Anspruch genommen haben. Mit eine*r Therapeut*in über seine Erfahrungen zu sprechen, sich in diesem Rahmen Glaubenssätze, religiöse Traumata und geistlichen Missbrauch bewusst zu machen, kann bei der Aufarbeitung enorm helfen.
Leider ist es nicht einfach einen Therapieplatz zu finden und häufig dauert es sehr lange. Aber es lohnt sich, dran zu bleiben. Solltet ihr daran Interesse haben, findet ihr hier eine gute Anleitung, wie man bei der Suche am besten vorgeht.
Frage: Gibt es für euch noch weitere Maßnahmen, die Menschen beim Ausstieg helfen können?
Comments