Wenn sich christliche und rechte Interessen überschneiden
In den letzten Monaten gab es immer wieder Diskussionen um "Christfluencerinnen", deren Äußerungen auf Instagram eine gewisse Affinität zur AfD bzw. zu rechtspopulistischem Gedankengut nahegelegt haben. Auf empörte Reaktionen liberaler Christ*innen wiesen die entsprechenden Accounts zwar darauf hin, sich nie explizit für die AfD ausgesprochen zu haben, allerdings - und das ist das große Problem - distanzierten sie sich auch nicht von der Partei. So bleiben - und das ist zweifellos beabsichtigt, denn die Möglichkeit, Stellung zu beziehen, ist jederzeit gegeben - jede Menge Raum für Spekulationen. Nicht zuletzt Jasmin Neubauers (die mit knapp 55.000 Followern die bekannteste deutsche Christfluencerin ist) wiederholte Zusammenarbeit mit rechtsoffenen Youtubern wie Ketzer der Neuzeit und eingollan lassen auf eine Überschneidung von Interessen bei fundamentalistischen Christ*innen und rechtsorientierten Menschen schließen.
Doch was genau haben die beiden Gruppen eigentlich gemein? In diesem Beitrag gehe ich auf einige Themen ein, die sowohl für fundamentalistische Christ*innen als auch für rechtsorientierte Menschen von großer Bedeutung sind. Eine Überschneidung der Interessen findet vor allem bei einigen der Kernthemen von Fundamentalist*innen statt, so dass die AfD, die genau diese Themen in ihrem Programm hat, als Partei an Attraktivität gewinnen könnte.
Vorab: Natürlich können nicht alle christlichen Fundamentalist*innen über einen Kamm geschert werden. Es wird zahlreiche unter ihnen geben, für die eine Wahl der AfD keine Option ist, für die andere Themen und Ziele relevant sind.
In den letzten Monaten habe ich mich intensiv mit dem Content erfolgreicher Christfluencer*innen auf Instagram und Youtube sowie die Reaktionen der entsprechenden Follower*innen beschäftigt. Ich beziehe mich hier - wie immer - auf meine persönlichen Erfahrungen, Beobachtungen und Analysen und Texte, die ich an entsprechender Stelle kenntlich machen werde.
1. Gender und gendern
Für fundamentalistische Christ*innen, die die biblischen Texte wortwörtlich verstehen, ist der folgende Vers ein Beweis dafür, dass Gott das binäre System erschaffen hat und nur dieses von ihm gewollt ist:
Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. (1. Mose 1, 27)
Dass neben dem biologischen Geschlecht auch noch das soziale Geschlecht existiert, wird nicht bezweifelt. Ganz im Gegenteil: Geschlechterrollen spielen im Familien- und Identitätsverständnis von diesen Christ*innen eine bedeutende Rolle. Was jedoch verleugnet oder wahlweise verteufelt wird, ist die Tatsache, dass es erstens Menschen gibt, deren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig männlich oder weiblich sind, und zweitens solche, deren Geschlechtsidentität nicht mit den äußeren Merkmalen übereinstimmt. Über die erste Variante wird in diesen Kreisen selten bis nie gesprochen, für die zweite gibt es unter Christ*innen etliche Erklärungen: Es kann okkulte Belastung sein, ein geringes Selbstwertgefühl, der Wunsch nach Anerkennung oder frühkindliche Indoktrination. Sehr häufig wird davon ausgegangen, dass Trans* Personen sich für diesen "Lebenswandel" entschieden haben. Doch egal, welche Ursache zugrunde liegt: Wer nicht in das binäre System passt, sündigt und muss von Gott gerettet werden.
Die Vorstellung eines einfachen binären Systems vertritt auch die AfD. In ihrem Parteiprogramm schreibt sie:
Die menschliche Spezies besteht aus zwei Geschlechtern, dem männlichen und dem weiblichen. (S. 115)
Sie gehen im Folgenden zwar auch kurz auf Intersexualität ein (also auf das Phänomen, dass bei manchen Menschen die Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig weiblich oder männlich sind), verleugnen aber durch Nicht-Erwähnen, dass es neben dem biologischen Geschlecht auch eine Geschlechtsidentität gibt, die nicht selten von den äußeren Merkmalen abweicht. Auch hier wird nur das binäre System akzeptiert.
Beiden Gruppen ist zudem besonders wichtig, dass junge Kinder nicht mit der Idee von mehr als zwei Geschlechtern konfrontiert werden. Aufklärungsversuche in Kindergärten und Schulen werden als "frühkindliche Sexualisierung" oder "Indoktrination" verstanden. Die AfD äußert sich in ihrem Programm folgendermaßen dazu:
Häufig wird die politische Beeinflussung von einer Frühsexualisierung im Sinne „diverser“ Geschlechterrollen begleitet. Die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ versucht, Kinder in Bezug auf ihre sexuelle Identität zu verunsichern und Geschlechterrollen aufzulösen. (S. 114)
Und auch Jasmin Neubauer, die auf Instagram den Account @liebezurbibel betreibt, setzt sich für das "Fernhalten von politischen Ideologien im Kindergarten" ein. Ihr Kinderbuch "Jesus & Gender" beschäftigt sich mit dem binären, von Gott kreierten, System. (Interessant dabei ist übrigens, dass sie das Kinderbuch als Musthave für alle Eltern bewirbt, in der aktuellen Y-Kollektiv-Reportage über Antifeminismus aber sagt, sie hätte sich zu wenig mit dem Thema auseinandergesetzt, um etwas dazu sagen zu können (Minute 8)).
Zur Folge hat diese Einstellung, dass beide - fundamentalistische Christ*innen und die AfD - gendergerechte Sprache rigoros ablehnen und sich gegen ihre Verbreitung einsetzen. Die AfD hat diesem Anliegen sogar einen eigenen Absatz in ihrem Programm gewidmet (S. 159). Da keine anderen Formen neben weiblich und männlich existieren, sollte ihrer Meinung nach weiter das generische Maskulin genutzt werden, das ja auch Frauen mit einbezieht und so die gesamte Menschheit abdeckt. Für christliche Fundamentalist*innen spricht gegen das Gendern außerdem, dass sie damit die Sünde der Menschen (gemeint ist die Transgeschlechlichkeit) dulden und sich damit mitschuldig machen würden.
(Nebenbei: Es gibt übrigens mehrere Studien, die zeigen, dass die Nutzung des generischen Maskulins dazu führt, dass Menschen sich Männer - und nicht Frauen - vorstellen. Wie gut diese Sprache also funktioniert, ist fraglich. Zu dem Thema kann ich "Unsichtbare Frauen" von Caroline Criado-Perez sehr empfehlen!)
2. Die klassische Familie und die Rolle der Geschlechter
Beide Gruppen setzen sich für das "klassische" Familienmodell ein. Für Christ*innen ist die Familie ein von Gott gewolltes Prinzip, für das die Bibel klare Regeln mitgibt. So ist der Mann das Haupt der Familie, der für seine Frau und Kinder sorgt, während sich die Frau ihm unterordnet und für die Erziehung der Kinder zuständig ist (vgl. Epheser 5, 21 ff). Es ist zwar selbst in fundamentalistischen Kreisen nicht mehr ungewöhnlich, dass auch Frauen einer Erwerbstätigkeit nachgehen (neben oder nach dem Kinderkriegen), doch das Grundprinzip bleibt dasselbe. Und auch der AfD ist die Stärkung des "klassischen" Familienmodells wichtig:
Die AfD fordert daher die Würdigung auch traditioneller Lebensentwürfe und die Wertschätzung der Lebensleistung von Frauen, die Familien gründen und Kinder großziehen (S. 115)
Dagegen lehnen fundamentalistische Christ*innen Homosexualität und die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare ab, da in der Bibel jede Menge Verse wie der folgende zu finden sind:
Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so ist das ein Greuel und beide sollten des Todes sterben. (3. Mose, 20, 13)
Gleichgeschlechtliche Liebe ist für sie eine Sünde und wird - ähnlich wie bei der Transgeschlechtlichkeit - wahlweise als Krankheit, okkulte Belastung oder Entscheidung zum sündigen Lebenswandel gedeutet. Sie wird von Gott verdammt und darf von Christ*innen nicht akzeptiert werden (mehr dazu in diesem Artikel). So ist die Ehe für fundamentalistische Christ*innen zwar immens wichtig, aber nur, wenn sie zwischen Mann und Frau geschlossen wird. Auch die AfD ist eine große Verfechterin der "traditionellen" Ehe. Nachdem die Ehe für alle 2017 verabschiedet wurde, reichte die AfD einen Gesetzesentwurf in den Bundestag ein, der diese wieder abschaffen sollte.
3. Abtreibung
Auch beim Thema Abtreibung kommen beide Gruppen überein: Sie sind "für das Leben" und gegen Abtreibungen. Für fundamentalistische Christ*innen beginnt das Leben mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Ab diesem Moment gilt es, das ungeborene Leben mit allen Mitteln zu schützen. Auch wenn Schwangerschaften durch Gewalt entstehen, wird keine Ausnahme gemacht, denn die Entstehung von neuem Leben wird immer als ein Geschenk Gottes angesehen. Das Parteiprogramm der AfD kommt zwar ohne "Gott" und "Sünde" aus, doch auch hier findet sich ein Abschnitt zum Thema "Willkommenskultur für Kinder", der mit dem Satz startet: "Ungeborene Kinder haben ein Recht auf Leben." und darauf eingeht, dass Abtreibungen unter allen Umständen vermieden werden sollten.
4. Klimawandel und Umweltschutz
Dieser letzte Punkt, in dem ich eine Überschneidung sehe, fällt etwas aus der Reihe. Denn tatsächlich geht es hier mehr um das fehlende Interesse beider Gruppen an dem Thema als um übereinstimmende Ansichten. Die AfD leugnet den menschengemachten Klimawandel und hat dementsprechend wenig Lösungen für das Problem im Angebot (Parteiprogramm, Seite 175). Fundamentalistische Christ*innen dagegen interessieren sich häufig einfach nicht sonderlich für Möglichkeiten, den Klimawandel einzudämmen. Für sie sind Umweltkatastrophen, Kriege oder Hungersnöte lediglich Vorboten des bevorstehenden Armaggedons - und Jesus' Wiederkunft möchten und können sie natürlich auch nicht aufhalten. Für sie ist der Schutz der Erde und Umwelt darum nicht von Bedeutung und jede Bemühung Zeitverschwendung, denn die Veränderungen sind von Gott gewollt.
Interessant ist, dass es bei den ersten drei Themen vor allem darum geht, die Rechte Andersdenkender zu beschneiden. Bei der AfD passiert dies schlichtweg, weil sie häufig menschenfeindlich, intolerant und reaktionär ist, bei den Christ*innen dagegen geschieht vieles unter dem Deckmantel des christlichen Gehorsams. Sie berufen sich auf die Bibel, man könnte sagen, sie haben keine Wahl, weil dieses Buch ihre Lebensgrundlage ist, doch auch sie verurteilen den andersartigen Lebenswandels und sind intolerant.
Problematisch ist die Überschneidung der Interessen vor allem deswegen, weil sie für fundamentalistische Christ*innen absolut relevante Schlüsselthemen darstellen. Als @liebezurbibel z. B. vor einiger Zeit einen Post veröffentlichte, in dem sie zusammenfasste, welche Themen für sie bei einer Bundestagswahl wichtig sind, standen genau diese Punkte auf ihrer Liste. Und auch allgemein ist die Fixierung auf Sexualität und Geschlecht typisch für fundamentalistische Christ*innen.
Es bleibt also zu hoffen, dass fundamentalistische Christ*innen sich nicht von den "Gemeinsamkeiten" blenden lassen, sondern sich gegen die Menschenfeindlichkeit von rechten Gruppierungen und AfD stellen.
"Was jedoch verleugnet oder wahlweise verteufelt wird, ist die Tatsache, dass es erstens Menschen gibt, deren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig männlich oder weiblich sind, und zweitens solche, deren Geschlechtsidentität nicht mit den äußeren Merkmalen übereinstimmt."
So klar ist die Angelegenheit mit den Geschlechtern nicht. Bereits in der Antike wurde über Androgynos (der Mannweibliche) geschrieben, berichtet wird auch von Platons Kugelmenschen. Die Bibel lässt sich auch in diese Richtung interpretieren:
"Wie bereits erwähnt, kommt der Mythos der Androgynos Menschen weltweit in allen Überlieferungen / Erzählungen vor. Im 1. Buch Mose (AT) gibt es eine hebräische Auslegung von den Androgynos Menschen. Diese Schöpfungsgeschichte lässt sich so auslegen, dass der Mensch als Mann und Weib (Androgynos) erschaffen wurde. Zitat 1. Mose, 27:
Sehr spannender Artikel, auch wenn ich fürchte, dass sich eben doch viele von den Gemeinsamen Zielen, auch wenn sie unterschiedliche Motivationen haben, blenden lassen. Was mich ehrlich verwundert ist, dass Umwelt-/ Klimaschutz keine Rolle spielt… gibts nicht auch diverse Bibelverse, dass der Mensch schützen soll, was Gott ihm gegeben hat und er verantwortlich dafür, gut damit umzugehen? Aber es ist vermutlich ähnlich wie in der Politik, solange keiner den Fokus darauf lenkt innerhalb der Kirchengemeinden ist es unwichtig…