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Der Selbstwert von Christ*innen

Zwischen göttlicher Liebe und Selbstverleugnung

Fundamentalistische Christ*innen glauben daran, von Gott auserwählt und gerettet worden zu sein. Gottes Liebe für sie ist so unermesslich groß, dass er seinen eigenen Sohn für sie opferte. Gleichzeitig sind sie sich ihres sündigen Wesens bewusst, sie kennen ihre Unzulänglichkeiten und wissen, dass sie, auch mit größter Anstrengung, niemals ein gottgefälliges Leben führen können - auch wenn es das einzige ist, woraus es ankommt. Zwischen der Gewissheit, von Gott geliebt zu werden, und dem ständigen Gefühl, zu versagen und nicht auszureichen, entstand für mich eine starke Ambivalenz in Bezug auf mein Selbstwertgefühl, die mein gesamtes christliches Leben begleitete.


1. Das sündige Wesen


Was für eine Ehre! Das mächtigste und einzig vollkommene Wesen liebt die Menschen so sehr, dass er für sie unfassbares Leid in Kauf nahm: Er opferte seinen eigenen Sohn und ließ ihn sterben, damit die Menschen errettet werden.

„Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Johannes 3, 16)

Gott erachtet die Menschen als so wertvoll, dass er ihnen Zuwendung, Liebe und Gnade schenkt. Das menschliche Selbstwertgefühl kann dadurch nur extrem gestärkt werden. Gott selbst definiert mit dieser Tat schließlich den Wert der Menschen - und Gottes Opfer zeigt, wie hoch dieser ist. Das Problem: Der Selbstwert des Menschen wird ausschließlich aus dieser externen Quelle, aus der Tatsache, dass er geliebt wird, gespeist. Aus sich heraus ist der Mensch ein*e Totalversager*in, durch und durch schlecht, ohne Hoffnung auf Besserung. Denn nach dem Sündenfall, bei dem Eva und Adam sich gegen Gottes Willen entschieden und damit den Rausschmiss aus dem Paradies provoziert haben, ist die Sünde Teil des menschlichen Wesens. Gleich Evas und Adams erster Sohn, Kain, wurde zum Mörder seines eigenen Bruders und seither kann sich laut Bibel kein Mensch von der Sünde freisprechen:

„Darum, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde der Tod und so der Tod zu allen Menschen durchgedrungen ist, weil sie alle gesündigt haben.“ (Römer 5,12).

Und doch ist es Gottes Wille, genauso heilig und vollkommen zu sein wie er. (vgl. Matthäus 5, 48). Menschen sind aber nun mal egoistisch, sie haben Bedürfnisse und möchten diese stillen. Ihre Gedanken sind nicht 24 Stunden am Tag bei Gott, sie beten nicht rund um die Uhr oder lobpreisen den Herrn. Der Mensch kann Gottes Anspruch der absoluten Reinheit und Fehlerlosigkeit schlichtweg nicht gerecht werden:

“Da ist kein Gerechter, auch nicht einer; da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht. Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer.“ (Römer 3, 10 ff)

Dieses Unvermögen führte bei mir zu einem ständigen Gefühl des Versagens. Trotz großer Bemühungen machen Christ*innen immer wieder Fehler, sie sündigen besseren Wissens und scheitern Tag für Tag. Ihr Wesen neigt zur Sünde, darf es aber nicht. So wurde mein christliches Leben stets von einer ungesunden Kombination aus Versagensgefühlen und schlechtem Gewissen begleitet. In der Theorie wusste ich zwar von Gottes Liebe, aus mir selbst heraus konnte ich aber nur immer wieder an seinen Ansprüchen scheitern.


2. Talente und Fähigkeiten


Während meiner Teenagerzeit gab es in meiner Gemeinde eine Veranstaltungsreihe, zu der Jugendliche eingeladen wurden, die nicht an Gott glaubten. Es gab hippe Musik, ein kleines Theaterstück und eine locker-leichte Predigt, die zur Bekehrung einladen sollte. Die Events waren beliebt und immer gut besucht. Irgendwann suchte man eine Person, die die Predigten übernehmen sollte. Viele dachten da an eine meiner Freundinnen. Sie hatte offensichtlich eine rhetorische Begabung, eine schöne, einnehmende Stimme und sprachliches Talent. Sie war wie geschaffen für die Aufgabe. Doch sie lehnte ab. Sie sagte, dass sie noch nicht so weit sei. Ihr bedeuteten die Komplimente und das Lob für ihre Texte und Reden noch zu viel, sie steigerten ihr Selbstbewusstsein und sie sei noch nicht in der Lage dazu, eine Predigt nur für Gott, und nicht für ihren eigenen Selbstwert, zu halten.

Damals hat mich das sehr beeindruckt. Denn in meiner Gemeinde glaubte man daran, dass jegliche Gabe und Fähigkeit von Gott kam und für ihn eingesetzt werden solle. Sang man gut, sollte man Gott im Chor lobpreisen, war man künstlerisch begabt, sollte man Bilder mit christlicher Botschaft malen. Es ging nicht um den Menschen oder um seine, teils hart erarbeiteten, Fähigkeiten oder Begabungen. Diese wurden als Geschenke Gottes gedeutet, die niemals aus eigener, menschlicher Kraft, sondern immer nur aus Gottes Gnade heraus entstanden sind. Stolz war völlig fehl am Platz - eine Sünde. Man hatte dankbar und demütig zu sein. Zudem sollten alle Begabungen immer nur als Werkzeug dienen, um Gott zu ehren. Das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung für eine Leistung und die Freude über ein Lob durften demnach nicht existieren, sie mussten unterdrückt werden. Es galt, immer Gott in den Mittelpunkt zu setzen, und sich selbst, seine Wünsche und Gefühle zu verleugnen.


3. Selbstwirksamkeit


Das Gebet ist ein zentraler Bestandteil des christlichen Glaubens. Gott möchte von den Menschen angebetet und gelobt werden. Es ist ihm wichtig, dass sich der Mensch ihm zuwendet und ihn verehrt. Doch es gibt auch noch eine weitere Komponente des Gebets: Der Mensch darf und soll Gott auch um Dinge bitten. Mit Gebeten und dem richtigen Maß an Glauben, wirkt Gott auf dieser Welt:

„Darum sage ich euch: Alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubet nur, daß ihr's empfangen werdet, so wird's euch werden.“ (Markus 11, 24)

Das hört sich erstmal hervorragend an. Mithilfe des Gebets können Menschen Gott zum Handeln bewegen. Durch ihr stetiges Bitten und ihr Vertrauen in seine Kraft können Wunder geschehen. Christ*innen können auf diese Weise in der Welt wirksam sein, so können sie Großes bewegen. Doch die Realität zeigt: Vieles wird einem dann doch nicht gegeben. Weltfrieden, der Sieg über Hunger und Leid auf dieser Welt, das Ende von Naturkatastrophen, Dürren und Stürmen, oder auch persönliche Anliegen wie ein Job, eine Wohnung, Heilung von einer Krankheit, eine gute Partnerschaft usw. - viele Gebete bleiben einfach unerhört, auch wenn sie mit vollem Ernst und tiefem Vertrauen und Glauben vorgebracht werden.

Dafür gab es in meiner Gemeinde diverse Erklärungen: Vielleicht glaubt man eben doch nicht intensiv genug; vielleicht möchte Gott den Glauben auch prüfen und man muss ihn erst beweisen. Möglicherweise bittet man aber auch für das Falsche, ist beim Beten zu egoistisch und sollte seine Anliegen lieber nochmal überdenken. Wenn Gott nicht hört, nicht antwortet oder eingreift, hat dies einen guten Grund und in der Regel liegt dieser in den Betenden selbst: Denn auch nach der Bekehrung ist der Mensch sündig, seine Wünsche und Gebetsanliegen stimmen häufig nicht mit Gottes Willen überein. Die Ursache für Gottes Schweigen liegt nicht in ihm, sondern wahlweise im fehlenden Glauben des Menschen, in seiner Selbstsucht oder der falschen Setzung von Prioritäten. Der Mensch muss sich ändern, er muss an sich arbeiten, sein sündiges Wesen verleugnen und Gott näher kommen, damit seine Gebete erhört werden können. Selbst im Gebet kann der Mensch Gott kaum gerecht werden: Er selbst und sein Glauben reichen nicht aus und das Potenzial für die Angst zu scheitern und nicht zu genügen ist enorm hoch.


Während meiner christlichen Zeit musste sich mein gesamter Selbstwert aus der Tatsache speisen, dass Gott mich liebt. Es gab nichts, was aus mir heraus zum Selbstwert hätte beitragen können. Stets hatte ich das Gefühl, als Mensch nicht auszureichen und zu versagen. Dazu gesellte sich ein schlechtes Gewissen, weil ich es nicht schaffte, mich selbst mehr zurückzunehmen und Gott in den Mittelpunkt meines Lebens zu stellen. Ich fühlte mich vollkommen abhängig von Gottes Willen und war überzeugt davon, ohne diesen nichts bewirken zu können.

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